Der Publizist Hellmuth Karasek kannte das Grauen des Vernichtungslagers aus Büchern, Filmen, Theaterstücken. Erst ein Besuch in der Gedenkstätte gab dem Schrecken Gestalt.

Nach Auschwitz kam ich erst sehr spät. Lange habe ich mich nicht getraut. Und als ich nach Auschwitz kam, hatte ich im Gepäck, in meinem Gedächtnis, fast alles, was man über Auschwitz wissen konnte. Und das war sehr viel. Filme. Der Film „Shoah“ von Claude Lanzmann. „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais. „Sophies Entscheidung“ mit Meryl Streep. „Schindlers Liste“. Und „Schindlers Liste“ sah ich in Krakau wieder. Für Touristen gab es Busse, die zu den „Schauplätzen“ des Films fuhren, unter anderem zu der Fabrik, mit der es Schindler gelang, „seine Schindler-Juden“ zu retten.

Ich hatte viel im Kopf, was ich über Auschwitz gelesen hatte. Die Erinnerungen von Imre Kertesz, „Roman eines Schicksallosen“, der über Auschwitz nach Buchenwald kam, das Buch von Primo Levi, der Auschwitz überlebte und den die Folgen von Auschwitz in den Selbstmord trieben, das Buch von Ruth Klüger, die in Auschwitz war.

Ich hatte Auschwitz durch den Auschwitz-Prozess in Frankfurt als Zeitgenosse und als Theaterkritiker kennengelernt. Den Prozess hatte der tapfere hessische Generalstaatsanwalt Bauer auf den Weg gebracht. Gegen zähe Lethargie und Widerstand der deutschen Öffentlichkeit. Nach dem Prozessbericht in der „FAZ“ von Bernd Naumann war der erste große Prozess gegen Naziverbrecher und Verantwortliche für den Holocaust in einem Theaterstück von Peter Weiss dokumentiert, „Die Ermittlung“, die durch sämtliche deutsche Theater lief. Ich verfolgte auch den Eichmann-Prozess über den übereifrigen Todeslieferanten für die Todesmühlen in Jerusalem. Ich kannte Paul Celans „Todesfuge“ und ich kannte die US-Fernsehserie „Holocaust“, die naserümpfend als Soap empfunden wurde und die doch im deutschen Bewusstsein endlich einen gewissen Raum für diese nazistische Hölle auf Erden schuf.

All das kannte und wusste ich und war dann doch erschlagen, als ich dem Ort Auschwitz gegenüberstand. Da war die Rampe mit dem Eisenbahnwaggon an einer jäh endenden Schienenstrecke neben einer endlosen Landstraße zwischen Auschwitz, dem alten Lager und Birkenau, dem „Endlösungslager“. Ein Nichts. Und doch schien man auf einmal die Stimmen zu hören, die die letzte und schrecklichste Phase von Auschwitz betrafen.

Paul Kremer, Medizinprofessor an der Universität Münster, führte Tagebuch über seine täglichen Aktivitäten. „2. September 1942. Zum ersten Male um fünf Uhr früh bei einer Sonderaktion. Abends gegen acht Uhr wieder bei einer Sonderaktion aus Holland. Wegen der dabei abfallenden Sonderverpflegung, bestehend aus einem fünftel Liter Schnaps, fünf Zigaretten, 100g Wurst und Brot drängten sich die Männer, die Häftlinge, zu solchen Aktionen. 6. September 1942. Heute Sonntag, ausgezeichnetes Mittagessen: Tomatensuppe, ½ Huhn mit Kartoffeln und Rotkohl (20g Fett). Süßspeise und herrliches Vanilleeis. Abends um acht Uhr wieder zur Sonderaktion draußen.“ Die Sonderaktionen, das waren die Selektionen, die gleich nach der Ankunft der vollgepferchten Güterwagen an dieser Rampe stattfanden. Alle Jugendlichen unter 16 Jahren, alle Mütter, die Kinder bei sich hatten, alle Kranken und Schwachen, wurden zu den Gaskammern gebracht. Der Rest der Häftlinge wurde vom Arbeitseinsatzführer übernommen und ins Lager gebracht. Ruth Klüger berichtet von dem Gebell und den fortgesetzten „Schnell, schnell!“-Rufen.

Die Häftlinge mussten sich alle nackt ausziehen, ob Kinder, ob Greise, ob Frauen, ob Männer. Sie wurden ihrer Persönlichkeit und ihrer Individualität beraubt. Die zur Sklavenarbeit bestimmten Häftlinge hatten nur eine Überlebenszeit von wenigen Monaten, so kalkulierte die SS. Sie wurden mit einer Nummer am linken Unterarm tätowiert und mussten bis zur tödlichen Erschöpfung arbeiten. Die IG-Farben-Industrie hatte in der Nähe von Auschwitz kriegswichtige Betriebe angesiedelt. Auf ihrer gestreiften Häftlingskleidung hatten die Häftlinge Dreiecke in unterschiedlichen Farben für politische Häftlinge, Kriminelle, Homosexuelle und Zigeuner. Juden trugen den berüchtigten „Judenstern“.

Die Aussortierten wurden sofort in die Gaskammern in Birkenau geführt. Von ihnen sind nur riesige Trümmer, Betonklötze, übrig. Die SS wollte beim Abzug die Spuren der Vernichtung löschen, bevor die Rote Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz befreite. Gerettet wurden nur 7650 Häftlinge, zu Skeletten abgemagert und zu schwach zum Gehen krochen sie über das Gelände. Die anderen hatte die SS mitgeschleppt, deren Martyrium war bis Mai 1945 nicht zu Ende. Auf Todesmärschen wurden die Häftlinge zu den KZs im Alt-Reich gebracht, wo sie in unterirdischen Fabriken an der „Wunderwaffe V2“ arbeiteten.

Man weiß alles über Auschwitz, man weiß, dass die Häftlinge, zur Nummer erniedrigt, all ihr Gepäck abgeben mussten, alle Kleider, und nur die KZ-Uniform behielten und Holzpantinen. Man weiß, dass das Gepäck in eine Lagerhalle namens Kanada kam. Eine der grauenhaftesten Einzelheiten für mich war die Unmenge von Koffern im Stammlager. Und dass auf den Koffern sorgfältig sichtbar und meist doppelt aufgeschrieben die Heimatadressen der Ermordeten zu lesen sind. Sie hatten bis zuletzt die Hoffnung, wieder heimreisen zu können.

In den Lagern sieht man die furchtbaren Sammlungen von Haaren, Zahnprothesen, Brillen, Schuhen. Schöne Frauenschuhe, als seien die Opfer von einer Soiree verschleppt worden, winzige Kinderschuhe, als seien sie vom Spielplatz oder aus dem Kinderzimmer direkt hierher gefahren worden. Man sieht ausgebrochene Zahnprothesen, und angesichts dieser industriellen Verarbeitung der Überreste der Ermordeten befällt einen ein Gefühl trostloser Leere. Am schrecklichsten ist der Anblick der Haargebirge. Bei ihrer Ankunft wurden die Häftlinge kahl geschoren und die Haare wurden industriell verarbeitet. Aus dem Haar entstanden unter anderem Filzschuhe für U-Boot-Besatzungen. Ein anderer Schrecken: die Passbilder für den Übergang in die anonyme Welt des Lagers. Man sieht junge Gesichter, schöne Gesichter, alte, würdige Gesichter, es sind Passbilder für den Tod.

Wie gesagt, nach Auschwitz kam ich sehr spät. Aber den Namen des Ortes kannte ich schon, noch bevor Auschwitz das schreckliche Auschwitz war. Ende 1939 kamen meine Eltern in ihre Geburtsstadt Bielitz zurück. Bielitz war nach dem nationalsozialistischen Ordnungsprinzip die Kreishauptstadt, Auschwitz gehörte zum Kreis Bielitz. Bielitz gehörte zum „Großdeutschen Reich“, Auschwitz lag an der Grenze zum Generalgouvernement Polen.

1943 las und hörte ich als neunjähriger Junge zum ersten Mal und einzigen Mal von der grausamen Vernichtung einer ganzen Gruppe von Menschen durch Massenmord. 1940 hatte das Politbüro der KPdSU unter Stalin die Erschießung von 25.700 polnischen „Offizieren, Beamten, Gutsbesitzern, Polizisten, Gendarmen und Gefängniswärtern“ angeordnet, davon allein 4400 in Katyn. Das war zu der Zeit, als sich Hitler und Stalin gemeinsam auf Polen gestürzt hatten und es teilten. Als Katyn stattfand, war auch Auschwitz zum Lager ausgebaut worden. Auf die Baracken wurde ein erstes Stockwerk aufgesetzt. Die den Deutschen in die Hände gefallenen polnischen Offiziere, Beamten, Gutsbesitzer, Polizisten, Gendarmen und Gefängniswärter vegetierten dort. Es war eine Parallelaktion der deutschen Besatzer zu den Hinrichtungen der sowjetischen Eroberer. Die meisten dieser Gefangenen starben nach und nach, sie wurden in Krematorien tausendfach täglich zu Staub verbrannt.

Dann brach zwischen den Verbündeten, die Polen mit ihren Armeen überrollt hatten, der Krieg aus. Hitler-Deutschland fiel mit einem riesigen Heer über die unvorbereitete Sowjetunion her. Über eine Million sowjetischer Soldaten fielen den Deutschen in die Hände. Auschwitz konnte die riesige Zahl sowjetischer Gefangener nicht verkraften. Sie verhungerten und versuchten, sich gegenseitig aufzufressen. Ein bis dato unvorstellbares Inferno.

Doch zurück zu Katyn. 1943 entdeckten die deutschen Truppen die Leichen von Katyn. Und da riefen sie das Rote Kreuz von Schweden zur Besichtigung der Massengräber, um zu zeigen, wie bestialisch die Sowjetunion mit ihren besiegten Feinden umging. Die Nazis spielten Entrüstung. Von Auschwitz erfuhr ich damals nichts. Als Kind bekam ich nur Angst vor der Roten Armee, die inzwischen wieder im Vormarsch nach dem Westen war.

Die Geschichte geht manchmal gruselige Wege. Als sich 2010 die Erschießungen von Katyn zum 70. Mal jährten, fand dort eine Erinnerungsfeier statt. Auch das offizielle neue Russland schämte sich hier für Stalins Verbrechen. Jedenfalls ein bisschen. Die damalige polnische Regierung und Präsident Lech Kaczynski, sehr national und russlandskeptisch eingestellt (nach den Erfahrungen des Warschauer Pakts und der Knebelung Polens durch die Rote Armee eine nicht unverständliche Haltung), konnten nicht zur offiziellen Feier und wollten dies nachholen.

Die Regierungsmaschine stürzte unter seltsamen Umständen mit fast der gesamten Regierung und fast allen hohen Militärs Polens ab. Es wirkte wie ein gespenstisches Echo auf die ermordete Elite in Katyn. Wahrscheinlich waren nicht die russischen Fluglotsen schuld, sondern Polens Präsident, der dem Piloten befahl, trotz widriger Umstände zu landen. Der Absturz schaffte neues Misstrauen zwischen Russland und Polen. Im Januar 1945 hatte die Rote Armee Auschwitz befreit. Diese Aktion hätte der Roten Armee auf immer einen Heldenplatz im Gedächtnis der Polen einräumen können und müssen. Die Öfen der Krematorien waren noch warm. Der Ruß der Verbrannten färbte den Schnee schwarz.

Zu den 70-Jahr-Feiern kommt Putin nicht nach Auschwitz. Er ließ wissen, er sei nicht eingeladen.