Wirtschaft hält Debatte über Akademisierungswahn für falsch und fordert Schulreform

Berlin. Bildung lohnt sich. Dieser Grundsatz ist seit Jahrzehnten wie in Stein gemeißelt. Je mehr Fähigkeiten man erwirbt, je höher der Bildungsabschluss ist, desto leichter findet man einen Job. Und einen gut bezahlten. Klar, oder? Seit einiger Zeit nicht mehr. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin fordert, den „Akademisierungswahn zu stoppen“. Bildungsforscher erklären, der Lohnvorsprung von Studienabsolventen schmelze. Und selbst der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) warnt vor einer übertriebenen Akademisierung.

Nun schlagen die Wirtschaftsverbände zurück. In einem Positionspapier mit dem Titel „Wir brauchen alle!“ üben der Bundesverband der Deutschen Arbeitgeber (BDA), der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Deutsche Telekom Kritik an der Diskussion über eine Akademikerschwemme. „Die Debatte über eine mögliche Überakademisierung oder gar einen Akademisierungswahn ist irreführend, undifferenziert und schadet dem Gedanken von mehr Durchlässigkeit zwischen den Bildungsbereichen“, sagt BDA-Vizepräsident Gerhard Braun.

Fakt ist: Seit dem Jahr 2000 ist die Studienanfängerquote deutlich gestiegen. Entschieden sich damals lediglich 33,5 Prozent eines Jahrgangs für ein Studium, ist die Quote im Jahr 2013 auf mehr als 50 Prozent gestiegen. Die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge ging im gleichen Zeitraum dagegen deutlich zurück. DIHK-Präsident Erik Schweitzer kritisierte deshalb, jahrelange und undifferenzierte Forderungen nach mehr Studenten hätten dazu geführt, „dass Hörsäle aus allen Nähten platzen, während Unternehmen händeringend Azubis suchen“. So gab es im September 2014 mehr als 30.000 unbesetzte Lehrstellen. Dem Wirtschaftsstandort Deutschland drohe ein „nachhaltiger Schaden“, wenn „der Trend zur Akademisierung um jeden Preis“ nicht gestoppt werde, sagt Schweitzer.

BDI und BDA sehen das ganz anders. In ihrem Positionspapier warnen sie davor, beide Bildungsbereiche gegeneinander auszuspielen. „Die Wirtschaft braucht sowohl Absolventen aus der beruflichen als auch aus der akademischen Bildung.“ Beide Bereiche müssten „gleichwertig vorangebracht“ werden. Und beides lasse sich in Einklang bringen, wie die duale Berufsausbildung belege. Seit 1995 ist der Anteil der Ausbildungsanfänger mit Studienberechtigung von 15,5 auf 24 Prozent gestiegen. „Dies zeigt: Die duale Berufsausbildung ist eine attraktive Option für Studienberechtigte.“

BDA-Vize Braun kritisiert, die Debatte über die Akademikerschwemme setze an der falschen Stelle an. Das Problem seien nicht zu viele Akademiker, sondern „fehlende Ausbildungsreife, mangelnde Berufsorientierung, hohe Abbruchzahlen in Schule und Hochschule sowie eine immer noch hohe Zahl von Menschen ohne jeglichen Berufsabschluss“. Zwar ist die Zahl der Jugendlichen ohne Berufsabschluss seit dem Jahr 2000 deutlich zurückgegangen. Aber noch immer gebe es jährlich rund 50.000 Schulabbrecher. Fast 20 Prozent aller Jugendlichen seien nicht ausbildungsreif. Und die Abbruchquote an Hochschulen betrage durchschnittlich fast 30 Prozent, heißt es in dem Papier. Statt die Debatte über den Akademisierungswahn anzuheizen, brauche es eine „schlüssige Gesamtstrategie zur Fachkräftesicherung“, heißt es in dem Papier. Besonders an Schulen gebe es Reformbedarf. So sollten Berufs- und Studienorientierung stärker in den Schulen verankert werden. Insbesondere die Schulen, die zur Hochschulreife führen, sollten berufliche und hochschulische Bildung gleichberechtigt vorstellen. Wenn das gelänge, würden nicht mehr so viele blind Abi machen und danach studieren, sondern womöglich eine Ausbildung in einem technischen Beruf einschlagen.

Darüber hinaus müsse die Politik die Schulqualität verbessern, indem sie den Schulrektoren mehr Freiraum lässt. „Selbstständige Schulen“, die eigenständig über Profilbildung, Personal und Ressourcen entscheiden können, sollten ausgebaut werden. Auch müssten Schülern naturwissenschaftliche Fächer besser vermittelt werden, da in naturwissenschaftlich-technischen Berufen ein besonderer Engpass bestehe. So könnten Unternehmen derzeit 130.000 Stellen im sogenannten MINT-Bereich nicht besetzen.

Die Wirtschaft fordert auch, Brücken zwischen beruflicher und akademischer Bildung auszubauen, etwa durch Unterstützungsangebote für den Einstieg ins Studium oder flexiblere Studienangebote. Um das zu finanzieren, schlägt die Wirtschaft die Rückkehr eines unbeliebten Instruments vor: „Durch die Wiedereinführung von nachgelagerten und sozial verträglichen Studienbeiträgen können die Hochschulen ihre Mittelbasis verbreitern“, heißt es in dem Papier. Allerdings haben fast alle Bundesländer Studiengebühren in den vergangenen Jahren wieder abgeschafft.