Dorothee Schlaphof verliert vier Söhne – „für Gott und Vaterland“. Ein Bild der Verklärung, das heute befremdlich wirkt. Das Schicksal aus dem Ersten Weltkrieg beschäftigt die Familie bis heute.

Vier Kreuze. Vier Daten. Vier Vornamen. Ein Nachname. „Schlaphof“ steht viermal auf dem Findling in der Dorfmitte. Grünes Moos wandert über den mächtigen Stein, nicht anders als andere Gedenksteine auch sieht der hier aus, beschützt von einer Eiche am Rande der Lüneburger Heide, im 700-Einwohner-Dorf Rehlingen bei Amelinghausen. Und nur wenige Menschen bleiben hier stehen und sehen sich an, was darauf geschrieben steht.

Johannes, Hermann, Heinrich, Friedrich. 27.9.14, 11.5.15, 25.9.15, 8.9.18.

Amelinghausen im Herbst 2014. Kriemhild Brüggemann hat Müslikekse auf eine Etagere gelegt, gießt frisch aufgebrühten Tee in geschwungene Porzellantassen. Eine schlanke, gepflegte Dame Mitte 60, die Haare blond mit Pony, die Augen wasserblau mit Brille. Zwei ihrer Wohnzimmerwände bestehen aus Büchern, auf dem Kaminsims stapelt sich Klassik. Sie bittet auf ihr Ledersofa, setzt sich über Eck auf das zweite und legt die Hände auf die Oberschenkel.

Kriemhild Brüggemann möchte etwas erzählen. Erzählen, was in ihrer Familie vor 100 Jahren passiert ist. Die Geschichte von Johannes, Hermann, Heinrich und Friedrich – die Geschichte von ihrem Tod.

Es ist der 4. Oktober 2007, als Kriemhild Brüggemann ihre Cousine Mathilde Schlaphof in einem Lüneburger Altenheim besucht, mit ihr Kaffee trinkt und über die Geschichte ihrer Familie spricht. Mathilde hatte einen Sehfehler, merkte sich seit Kindertagen alles auswendig im Kopf. Auch die Todesdaten ihrer vier Onkel. Und den Text, den sie auf dem zusammengefalteten Zettel immer bei sich trug. Auch an diesem Donnerstag.

Als Kriemhild nicht aufhört zu fragen, fingert Mathilde das Stück Papier aus ihrer Rocktasche, faltet es auseinander und legt es ihrer Cousine in die Hand.

Die Heldenmutter

Fünf Söhne wuchsen wie Eichen um mich her.

Unser Kaiser rief sie ins Feld zu schirmender Wehr.

Mutig schieden meine Fünf von mir.

Und ich, ich blieb einsam hier.

Herr Gott vergib, dass mein Stolz mich zum Himmel trug,

dass ich stolz noch blieb, als schwer deine Hand mich schlug.

Siegeskunde kam von den Unseren Tag auf Tag.

Vier Söhne blieben mir draußen, ein harter Schlag.

Meine tapferen Jungen. Ich habe nicht geweint, nicht gebebt,

habt ihr doch immer die höchsten Ziele erstrebt.

Was ihr im Leben Großes hättet vollbracht,

größer als alles war euer Heldentod in der Schlacht.

An des Hauses Schwelle will ich nun wartend stehn,

mein Letzter, der heimkehrt, er soll mich lächeln sehn.

Auf meine brennenden Wunden drücke ich fest die Hand,

so dient eine deutsche Mutter dem Vaterland.

Johannes, Hermann, Heinrich, Friedrich und Wilhelm hießen die fünf Söhne. Johannes, Hermann, Heinrich und Friedrich sind die vier Namen von dem Gedenkstein unter der Eiche in Rehlingen. Die vier, die innerhalb von vier Jahren gestorben sind.

Wilhelm ist der Vater von Mathilde Schlaphof.

Kriemhild Brüggemann ist zum Vorlesen nach vorn aufs Sofa gerückt, den Rücken gerade aufgerichtet. Sie erzählt, was ihre Cousine ihr vor sieben Jahren im Altenheim berichtet hat. „Als Wilhelm als einzig überlebender Sohn nach Hause kam, ging seine Mutter ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen und lächelte.“ Sie macht eine Pause. „Sie wusste, dass sie alle anderen Söhne verloren hat.“

Kriemhild Brüggemann bittet um Verzeihung. Ihre Augen sind jetzt feucht, sie sieht sich für einen Moment lieber die Sitzfläche des Sofas an als das Gesicht des Gastes. Einen Moment später wird sie sagen, sie selbst hätte es nicht verkraftet, wenn ihre eigenen zwei Söhne in einem Krieg gestorben wären. „Mich hätte das an den Rand getrieben. Stelle ich mir vor, es wären vier Kinder, ich hätte nichts mehr gegessen und nichts mehr getrunken. Ich wäre eingegangen. Wie eine Pflanze.“

Das Gedicht ist eine Realballade. Ein Blick in die Köpfe unserer Vorfahren, ihre Gedanken und Gefühle.

Dorothee Schlaphof lebte mit ihrem Mann in einem Haus im Wald und hatte sieben Kinder. Die Mädchen Wilhelmine und Marie und die Jungs. Vier von ihnen starben im Ersten Weltkrieg. Im Heimatdorf Rehlingen nannten sie die Leute „Heldenmutter“. Wer das Gedicht geschrieben hat, ist nicht bekannt. Vielleicht sogar sie selbst.

Um zu verstehen, wie es sein kann, dass eine Mutter den Tod von vier eigenen Kindern als Dienst am Vaterland empfindet, als Heldentod, als etwas, über das es nicht zu weinen gilt, um das im Jahr 2014 zu verstehen, zeigt Kriemhild Brüggemann ein mit goldenem Papier eingeschlagenes Buch – so alt, dass man beim Blättern niesen muss. Ein „Deutsches Lesebuch für Volks- und Bürgerschulen“ von 1886.

„Soldaten! In einigen Tagen werdet ihr Gelegenheit haben, dem Feinde gegenüber zu stehen. Mit Gottes Hülfe werdet ihr euren alten Ruhm bewähren und neue Lorbeeren an eure Fahnen knüpfen, und mit Stolz wird das Vaterland auf seine Söhne blicken“, lasen die Schüler.

Mit Vokabular und Pathos des 100 Jahre alten Gedichts kann Kriemhild Brüggemann zwar nichts anfangen, mit dem Gefühl schon. „Die Bibel und das Gesangbuch waren das Einzige, wonach die Familie gelebt hat in ihrem Haus im Wald, ohne Strom, anderthalb Kilometer vom Dorf entfernt.

Bildung konnte sie sich nicht leisten. Man hat den Leuten eingeredet, dass sie ihre Söhne hergeben müssen, dass Gott sie im Krieg schützt. Selbst große Maler wie Franz Marc sind ja mit großem Eifer an die Front gezogen. Dass sie nur Kanonenfutter für den Kaiser waren, wusste niemand.“

Ihr fällt ein, dass sie noch mehr zeigen kann als das muffige Buch. Sie entschuldigt sich, gießt Tee nach, bittet darum, zu den Keksen zu greifen und geht die Stufen zum Keller hinab. Kommt mit einem Album wieder, wischt mit den Fingern über die Oberfläche und sagt: „Das ist natürlich etwas staubig jetzt. Liegt seit Jahren im Keller, mein Mann hat es von seiner Mutter bekommen.“ In dem Album hat ihre Schwiegermutter vor 100 Jahren die Postkarten aufbewahrt, die sie von ihrem Vater von der Front geschickt bekommen hat. Wie Briefmarken hat das Mädchen die Karten ordentlich in die dafür vorgesehenen Papierecken gesteckt. Oder Lackbilder.

„Gott schütze Deutsche Kraft und Deutschen Mut!“ „Gott schütze unser Vaterland! Durch Kampf und Sieg!“ steht auf der Vorderseite gedruckt, dazu das Eiserne Kreuz, der Reichsadler, die Flagge und der Lorbeerkranz – allesamt Symbole des Deutschen Kaiserreichs, von Krieg, Sieg und Ehre vor 100 Jahren.

„Liebe Anna! Gott zum Gruße! Mir geht es wie immer gut“ steht auf der Rückseite.

Es sind Dutzende solcher Postkarten, die Wilhelm Tödter seiner Tochter Anna geschickt hat. Annas Album liegt jetzt im Keller ihrer Schwiegertochter in Amelinghausen.

Tochter Wilhelmine Vorfahrin des Reeders Hermann Ebel

Während Wilhelm Tödter seiner Tochter solche Ansichtskarten schickt, sterben Dorothee Schlaphof in Rehlingen die Söhne weg. Seit dem Dreißigjährigen Krieg 1618 bis 1648 hat keine Generation so viele Angehörige in einem Krieg verloren wie die des Ersten Weltkriegs. Mathilde Schlaphof ist ihre Enkelin und die Cousine von Kriemhild Brüggemann, eine Cousine zweiten Grades. Weil ihr Großvater so spät geheiratet und Kinder bekommen hat, verschiebt sich in der Familie alles um eine Generation, und Kriemhilds Cousine ist so alt, dass sie auch ihre Tante sein könnte.

Dorothee Schlaphof hat damals geglaubt, dass sie ihre Söhne für Gott und Vaterland gegeben hat. Was auf dem Zettel in der Rocktasche ihrer Schwiegertochter steht, muss diese Mutter wirklich so empfunden haben.

Es gibt ein Foto, da sitzt eine alte Frau auf einem Stuhl vor ihrem Haus, sie trägt ein schwarzes Kleid mit hohem Kragen am Hals, die Haare nah am Kopf zu einem strengen Dutt gebunden. In den Händen hält sie eine Bibel, in den Augen trägt sie Bitterkeit. Es ist Dorothee, die „Heldenmutter“, vermutlich in den 1930er-Jahren.

Ihre Tochter Wilhelmine ist eine Vorfahrin des Hamburger Reeders Hermann Ebel. Ihr letzter Sohn Wilhelm hat nach der Rückkehr aus dem Krieg einen Hof bewirtschaftet, der heute unter dem Namen Bauck Bioprodukte in ganz Deutschland verkauft.

Das Gedicht von 1918 hat Mathilde Schlaphof ihrer Cousine an diesem Donnerstagnachmittag vor sieben Jahren nur geliehen. Kriemhild Brüggemann hat es von dem zerknitterten Zettel abgeschrieben, in den Computer getippt und ihr das Papier zurückgegeben. Die alte Frau hat es wieder zusammengefaltet und zurück in ihre Rocktasche gesteckt.

Am 4. Dezember 2009 ist Mathilde Schlaphof gestorben. Als letzte Frau der Familie, die mit dem Pathos von Reich und Krieg, Sieg und Ehre groß geworden ist.