Serie Mauerfall, Teil 12: Für Oliver Schirg war es ein unvergesslicher Moment: 1990 saß er als junger Journalist Willy Brandt gegenüber, der den Anfang vom Ende der DDR eingeleitet hatte.

Herzklopfen war dabei. Als Willy Brandt am 29. Januar 1990 meinen Journalistenkollegen Dietmar Huber und mich in einem Büro der Bonner SPD-Zentrale, dem Erich-Ollenhauer-Haus, empfing, musste ich mir in den Arm kneifen. Da stand doch tatsächlich jener legendäre Sozialdemokrat vor uns, der mit dem Satz „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ das Ende der DDR auf den Punkt gebracht hatte.

Keine sechs Monate zuvor lebte ich noch in Leipzig und arbeitete an der dortigen Universitätszeitung. Unser Büro lag am Nikolaikirchhof, wo immer die Montagsdemonstrationen starteten. Die Mauer existierte noch, die DDR auch, und mehr als ein Gefühl, dass es nicht mehr so weitergehen wird wie bisher, hatte ich nicht. Nun also stand ich jenem Mann gegenüber, der als deutscher Bundeskanzler mit seiner Ostpolitik Anfang der Siebzigerjahre den Anfang vom Ende der DDR einleitete.

Willy Brandts Händedruck war weich. Ein sanftes Lächeln überzog sein Gesicht. Sein markante, rauchige Stimme, mit der er uns zum Hinsetzen einlud, klang freundlich. Vielleicht auch etwas nachsichtig angesichts dieser zwei blutjungen Journalisten aus der DDR, deren Ehrfurcht dem altgedienten Politiker nicht entgangen sein dürfte. Ja, uns fehlte die Erfahrung. Aber natürlich hatten wir noch längst nicht in die Rolle des kritischen Begleiters von Politik gefunden.

Auch fast ein Vierteljahrhundert nach dieser Begegnung wundere ich mich darüber, dass ich dieses Interview zwar mit Ehrfurcht anging, mir aber zu diesem Zeitpunkt so gar nicht das Besondere und am Ende für mein Leben Einzigartige dieser Begegnung klar war. Ich habe später das Glück gehabt, vielen Politikern zu begegnen. Ehrfurcht wandelte sich in Respekt. Aber das Interview vom 29. Januar 1990 ist mir wegen des Gesprächspartners in Erinnerung geblieben und wegen der Umstände, wie es zustande kam.

Mit Beginn des Jahres 1990 war ich von Leipzig nach Berlin zur Tageszeitung „Junge Welt“ gewechselt. Das Blatt gehörte noch der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der größten Jugendorganisation der DDR. Der heutige „Stern“-Reporter Jens König war einige Wochen zuvor zum Chefredakteur gewählt worden. Wir kannten uns, er erinnerte sich meiner, und so ergab sich die Möglichkeit, in Berlin zu arbeiten.

„Wir sind ein Volk“

Mich interessierte zu jener Zeit natürlich die „innerdeutsche Entwicklung“. Bundeskanzler Helmut Kohl und DDR-Ministerpräsident Hans Modrow hatten kurz vor dem Jahreswechsel ein Zehn-Punkte-Programm vereinbart, das zwar formal den Bestand der DDR anerkannte, aber dem Engagement westdeutscher Unternehmen alle Türen öffnete. Nun hatten wir bei Karl Marx und Friedrich Engels gelernt, dass die ökonomische Basis in letzter Instanz den politischen Überbau bestimmt, sodass bereits zu diesem Zeitpunkt eigentlich hätte allen klar sein müssen, dass am Ende nur die deutsche Einheit stehen konnte.

Aber während auf den Montagsdemonstrationen aus dem Freiheitsruf „Wir sind das Volk“ der Schlachtruf „Wir sind ein Volk“ geworden war, lebte unter Politikern, Journalisten, Künstlern und Bürgerbewegten zu diesem Zeitpunkt noch die Idee, die DDR lasse sich in einen demokratisch legitimierten und freiheitlichen Staat wandeln.

Wie auch immer, da zum Zeitpunkt meines Wechsels in die „Junge Welt“-Redaktion noch zwei deutsche Staaten existierten und die Bundesrepublik formal zum Ausland gehörte, fing ich in dem entsprechenden Ressort an. Zwar war ich durch Schule, Armeezeit und Studium in der DDR geprägt und konnte mir Anfang 1990 nicht wirklich die Wiedervereinigung vorstellen. Aber mir war doch klar, dass unser Leben sich nachhaltig verändern würde.

1989 arbeitete ich das erste Mal als Journalist

Vor allem als Journalist bot sich plötzlich die Möglichkeit eines viel freieren Arbeitens. Ich ging in diesen Tagen sozusagen noch einmal zur Schule, beobachtete bei Pressekonferenzen, wie die westdeutschen Kollegen ihre Fragen stellten und nachhakten, las am darauf folgenden Tag ihre Berichte und Kommentare. Als Jahrgang 1962 hatte ich die „Gnade der späten Geburt“ erfahren, um einen in einem anderen Zusammenhang verwendeten Satz von Helmut Kohl zu zitieren. Ich arbeitete eigentlich erst im Herbst 1989 das erste Mal richtig als Journalist in einer Redaktion und kannte die Verhältnisse, unter denen DDR-Journalisten bis dahin geschrieben hatten, nur vom Hörensagen.

Wahrscheinlich rührte meine damalige Unbekümmertheit aus dem „Vorrecht“ der Jugend, alles anders – und natürlich besser – zu machen. Ich scherte mich daher wenig um angestammte Zuständigkeiten in der Redaktion, als Ende Januar 1990 die Idee aufkam, angesichts der zunehmenden Rufe nach der deutschen Einheit ein Interview mit Egon Bahr zu führen. Bahr galt schon zu jener Zeit als Elder Statesman der Sozialdemokratie, der für den von ihm geprägten Leitgedanken „Wandel durch Annäherung“ stand und einer der entscheidenden Vordenker und führenden Mitgestalter der von der Regierung Willy Brandt eingeleiteten Ost- und Deutschlandpolitik war.

Also rief ich am 24. Januar 1990 in der Parteizentrale der SPD in Bonn an. Pressesprecher der Partei war damals Eduard Heußen. Mein „Pfund“, mit dem ich wuchern konnte: Die „Junge Welt“ druckte und verkaufte damals täglich mehr als 1,5 Millionen Exemplare und galt als die meistverkaufte Zeitung in der DDR.

Er könne uns ein Gespräch mit Willy Brandt anbieten

Heußen sagte zu, sich um unseren Interviewwunsch zu kümmern, und versprach einen Rückruf. Nun darf man sich das nicht so wie heute vorstellen. Anfang 1990 ein Telefonat von Berlin nach Bonn oder umgekehrt zu führen, war zwar nicht mehr politisch heikel, aber angesichts der beschränkten Telefonleitungskapazitäten ein Glücksspiel.

Insofern grenzte es an ein Wunder, dass Herr Heußen am nächsten Tag durchkam und zurückrief. Leider hatte er schlechte Nachrichten. Egon Bahr halte sich zu einem Studienaufenthalt in den USA auf, ein Interview sei nicht vor März oder April möglich. Allerdings könne er uns ein Gespräch mit Willy Brandt anbieten. Dieses müsse aber bereits am darauf folgenden Montagvormittag stattfinden, da Brandt anschließend ins Ausland verreise, fügte der SPD-Sprecher hinzu. Daher hätte ich auch nur einen Nachmittag Zeit, es auszuschreiben. Eine Freigabe der Zitate von Willy Brandt sollte noch vor dessen Abreise ins Ausland geschehen.

Ich sagte ohne Zögern – und Nachdenken – zu. Eigentlich war es üblich, dass erfahrene Kollegen ein so wichtiges Interview übernahmen. Aber die Zeiten hatten sich geändert, und der Chefredakteur entschied: Wer das Interview organisiert hatte, sollte es auch führen. Da verließ mich dann doch die Traute und ich bat, den Kollegen Dietmar Huber mitnehmen zu dürfen. Dagegen gab es keinen Einspruch.

Dann tauchte allerdings das eigentliche Problem auf. Weil das Interview mit Willy Brandt am Vormittag geführt werden sollte, bedeutete das, dass mein Kollege und ich in Bonn übernachten mussten. „Westgeld“ gab es seinerzeit – offiziell zumindest – noch nicht in der DDR. Devisen waren also knapp.

Der Verlag verfügte nur über ein begrenztes Budget für sogenannte NSW-Reisen. NSW stand für „nicht sozialistisches Wirtschaftsgebiet“, und die Bundesrepublik galt im Januar 1990 noch als solches. Daher erhielten wir zwar die Genehmigung, zu zweit von Berlin nach Bonn zu fahren. Allerdings stand für uns beide nur ein „NSW-Tagessatz“ von 35 D-Mark zur Verfügung. Nun war „Erfindungsreichtum“ gefragt. Die Bahnfahrkarten konnten zu diesem Zeitpunkt noch gänzlich in DDR-Mark bezahlt werden. Schwieriger war es, das Übernachtungsproblem zu lösen.

Sieben Mark pro Nase kostete die Übernachtung

Mein Kollege hatte die Idee, in der Jugendherberge in Bonn-Bad Godesberg zu übernachten. Zwar waren wir beide schon Ende 20. Wir gingen aber davon aus, dass damit niemand ein Problem haben würde. Allerdings musste bei einer Übernachtung in einer Jugendherberge der Ausweis der Organisation „Jugendtourist“ vorgezeigt werden. Einen solchen Ausweis besaß ich nicht. Zum Glück aber arbeitete seinerzeit die Ehefrau meines Kollegen bei „Jugendtourist“.

Jetzt ging es ans Rechnen. Sieben Mark pro Nase kostete die Übernachtung in der Jugendherberge. Jeweils rund zehn Mark gingen für U-Bahn-Fahrten und kleines (Bäcker-)Frühstück drauf. Damit waren 34 D-Mark verplant. Da riet uns ein Kollege, wir könnten es in einer Landesvertretung versuchen. Am Sonntag seien doch die Landtagswahlen im Saarland, und auf einer Wahlparty gebe es immer etwas zu essen. Um es vorwegzunehmen: Wir waren am Sonntagabend Gäste der bayerischen Landesvertretung.

An das Interview selbst habe ich nur wenige Erinnerungen. Willy Brandt ließ sich Zeit, wählte die Worte mit Bedacht. Wenn ich heute über den Text lese, fällt mir auf, wie „devot“ wir Journalisten fragten – und wie viel Wahres auch aus heutiger Sicht noch in Brandts Aussagen steckt. So wie in seiner Antwort auf die Frage, wie man mit einer (in Ostdeutschland) starken linken Partei neben der SPD umgehen müsste: Man sollte mit unterschiedlichen grundsätzlichen Positionen so umgehen, „dass man ihnen nicht mit einem Totalitätsanspruch, also mit dem Anspruch auf alleinige Wahrheit entgegentritt, sondern versucht, den Streit so auszutragen, dass man immer auch fragt, gibt es nicht wichtige Teilbereiche, die verbinden, weil sie unumstritten sind“.

Unser Zug zurück sollte am späten Abend Bonn in Richtung Berlin verlassen. Und wohl erst kurz zuvor, beim gemeinsamen Abendessen mit SPD-Sprecher Eduard Heußen, ist uns bewusst geworden, was für einen beeindruckenden Tag wir gerade erlebt hatten. Als wir schließlich auf dem Bahnsteig standen, war von den Reisespesen noch eine Mark übrig. Das reichte gerade für eine Milka Lila Pause.