Nach Brandrede der Kanzlerin zum Ukraine-Konflikt ist der Außenminister in Kiew und Moskau. Am Abend sprach er überraschend mit Putin

Moskau/Kiew. Über Moskau liegt schon längst die Nacht, Frank-Walter Steinmeier ist seit mehr als 14 Stunden auf den Beinen, aber am Dienstagabend hat er dann noch einen Termin. Zur allgemeinen Überraschung bittet ihn Wladimir Putin für 21.15 Uhr Ortszeit in den Kreml.

Das ist die Art von Einladungen, für die man als Deutschlands Außenminister den Rückflug nun doch um einige Stunden verschiebt, auch wenn man seit Sonnabend nicht mehr zu Hause war. Für Steinmeier ist es der Abschluss eines Tages, der, bei aller Sorge über die Entwicklung im Osten der Ukraine, zwischenzeitlich auch seine skurrilen Momente hatte.

So stand er am Vormittag in Kiew noch vor den verschlossenen Toren des Präsidialamts, weil der ukrainische Wachmann den richtigen Schlüssel nicht fand. Schließlich musste er mit der gesamten Delegation durch den Nebeneingang hinein. Aber wenn das doch nur das Einzige wäre.

Viel schlimmer ist, dass die Waffenstillstandsvereinbarungen, auf die sich die Ukraine, Russland und die prorussischen Separatisten im September in Minsk geeinigt hatten, nicht mehr viel wert sind. Von den Hoffnungen auf eine Befriedung des ukrainischen Ostens, die es gegen Ende des Sommers gab, ist kaum noch etwas übrig.

Es ist Steinmeiers erster Aufenthalt in Moskau seit der Annexion der Krim

Tag für Tag wird weiter gestorben. Inzwischen ist man bei mehr als 4000 Toten. Grund genug für einen Doppelbesuch in Kiew und Moskau, auch wenn das eher ungewöhnlich ist. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko übergibt Steinmeier ein Papier, auf dem aufgeführt ist, welche Vereinbarungen von wem erfüllt wurden. In der ukrainischen Spalte ist alles abgehakt. Die russische Spalte ist leer. „Russland hat kein einziges Kriterium erfüllt“, sagt Poroschenko. So ist hier in Kiew die Sicht der Dinge, man kennt das schon. Nicht einfach, hier noch zu vermitteln.

In Moskau sieht es nicht viel besser aus. Für Steinmeier ist es der erste Aufenthalt in Russlands Hauptstadt seit der Annexion der Krim. Als er Mitte Februar zuletzt hier war, schlug er den Russen noch eine „Positiv-Agenda“ vor. Man hat den Eindruck, dass das schon ewig her ist. Aber immerhin bemühen sich beide Seiten jetzt wieder um versöhnlichere Töne. Russlands Außenminister Sergej Lawrow meint: „Trotz aller Unterschiede, wie wir die Lage in der Ukraine beurteilen, ist wichtig, dass der Dialog zwischen uns nicht aufhört.“

Steinmeier fordert auch Russland auf, die Vereinbarungen von Minsk endlich einzuhalten. Zugleich mahnt er: „Es ist aber auch Zeit, jenseits von der Ukraine zu denken. Wir haben mit ein paar anderen Bedrohungen weltweit fertigzuwerden.“ Als Beispiel nennt er die Atomverhandlungen mit dem Iran, die jetzt in die entscheidende Runde gehen, und den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat.

Dem SPD-Mann ist wichtig, den Dialog in Gang zu halten. „Der Wunsch, Gesprächskanäle zu kappen, ist geradezu unverständlich.“ Von den Sanktionen gegen Russland redet er in der Öffentlichkeit den ganzen Tag lang nicht. Stattdessen regt er Kontakte zwischen EU und Putins Eurasischer Wirtschaftsunion an. Zudem soll die Kontaktgruppe, die unter dem Dach der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in der Ukraine vermittelt, wieder zum Leben erweckt werden. In der „Brandrede“ gegen Russland, die Kanzlerin Merkel in Australien hielt, war von so etwas nicht die Rede. Viele haben Steinmeiers Mahnung, bei der Wortwahl gegenüber den Russen vorsichtiger zu sein, auch als Abgrenzung der Sozialdemokraten zur CDU-Kanzlerin verstanden.

Davon will man in seiner Umgebung aber nichts wissen. Alles, was Merkel in Sydney von sich gab, sei so oder so ähnlich auch schon gesagt worden. Die Mahnung des Ministers für eine vorsichtigere Wortwahl sei gegen die zunehmende „Kriegsrhetorik“ in einigen Medien gerichtet gewesen.

Am Dienstagabend, drei Tage nach dem Treffen von Merkel und Putin am Rande des G20-Gipfels in Australien, sieht er den Kremlchef dann auch. So etwas, Merkel hat mehrfach die Erfahrung gemacht, kann dauern. In diesem Fall waren es 75 Minuten. Aus deutschen Delegationskreisen hieß es nach dem Gespräch im Kreml, die Unterredung sei „ernsthaft und offen“ gewesen. Der Meinungsaustausch habe sich um „Wege aus der Ukraine-Krise, die neue Perspektiven der Kooperation eröffnen könnten“, gedreht.

Ex-SPD-Chef fordert den Westen auf, gegenüber Putin nachzugeben

Ein Fortschritt im Vergleich zu einer anderen Lehre, die Steinmeier noch vor Kurzem mit Blick auf die Ukraine verkündete: „Es dauert 14 Tage, um einen ernsthaften Konflikt loszutreten. Aber es dauert 14 Jahre, um ihn wieder zu lösen.“

Der ehemalige SPD-Chef Matthias Platzeck – heute Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums – sagte am Abend im ZDF über die Wortwahl der Bundeskanzlerin: „Ich habe Respekt vor der Arbeit und auch der Meinung der deutschen Bundeskanzlerin. Aber ich habe eine andere Sicht auf die Dinge. Die russische Seite vermisst einfach Respekt und Ansprache auf Augenhöhe.“ Platzeck fordert auch gleich, die Annexion der Krim durch Russland zu legalisieren. „Die Annexion der Krim muss nachträglich völkerrechtlich geregelt werden, sodass sie für alle hinnehmbar ist“, sagt er. Und seiner Meinung nach werden auch die von prorussischen Separatisten kontrollierten Regionen in der Ostukraine wohl nicht zum ukrainischen Staat zurückkehren. „Es ist momentan kaum vorstellbar, dass Donezk und Lugansk nach allem, was passiert ist, einfach wieder in den ukrainischen Staatsverband zurückkehren“, meint er. Platzeck fordert den Westen auf, gegenüber Russlands Präsidenten Wladimir Putin nachzugeben: „Der Klügere gibt auch mal nach.“