Scharfe Rüge der Expertenkommission für die Politik der Großen Koalition. Die Kritik sei „nicht nachvollziehbar“, wehrt sich Vizekanzler Gabriel

Berlin. Wie üblich wurde viel gelächelt, doch die Kanzlerin war schon ein wenig ungehalten über die Kritik der Professoren: Dass der Mindestlohn, der doch erst 2015 wirksam wird, schon jetzt die Konjunktur dämpfen soll, wollte Angela Merkel nicht einleuchten. „Das ist nicht ganz trivial zu verstehen“, erklärte sie den fünf Wirtschaftsweisen, die am Mittwochvormittag im Kanzleramt ihr Jahresgutachten überreichten. Mit ihrem Zweifel stand Merkel nicht allein. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) etwa nannte die professorale Rüge für Mindestlohn oder Rentenreform „nicht nachvollziehbar“. Und seine SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi schoss aus vollen Rohren gegen die Gutachter, zweifelte deren Sachverstand an.

Für Aufregung besteht auch Anlass: Denn die von der Regierung berufenen Wirtschaftsweisen gehen in ihrem Jahresgutachten scharf mit der Regierung ins Gericht. Deren Politik sehen sie als eine von drei Ursachen für den Einbruch des Wirtschaftswachstums – neben den weltweiten Krisen und der „enttäuschenden“ Wachstumsschwäche im Euro-Raum. Der aktuelle Kurs der Koalition stelle „eine Belastung für die wirtschaftliche Entwicklung dar“, heißt es in der Expertise. „Eine wirkliche Aufbruchstimmung hat die Koalition jedenfalls bislang nicht erzeugt.“

Stattdessen hätten die bisher beschlossenen Maßnahmen den künftigen Reformbedarf erhöht, warnte der Chef des Sachverständigenrats, Christoph Schmidt. Gemeint sind die Mütterrente, die Rente mit 63 und der Mindestlohn. Die Rentenreformen kritisieren die Ökonomen als eines der bisher teuersten Vorhaben in der Alterssicherung. Und sie warnen, die Finanzierung des Pakets sei wegen der eingetrübten Konjunktur anders als von der Regierung behauptet nicht mal bis zum Ende der Wahlperiode sicher, ökonomische Argumente gebe es für die Reformen auch nicht. Ähnlich kritisch bewerten die Wirtschaftsweisen die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns zum 1.Januar 2015: Es handele sich um ein „sozialpolitisches Experiment mit unbekanntem Ausgang“. Das Gutachten geht davon aus, dass im nächsten Jahr rund 100.000 Minijobs und rund 40.000 sozialversicherungspflichtige Stellen weniger entstehen als ohne Mindestlohn. Der Chef-Weise Schmidt appellierte an die Koalition, die Wirkung des Mindestlohns genau zu beobachten – und die Lohnuntergrenze bei Bedarf zu senken oder wieder abzuschaffen.

Dass dieses Gesetz schon jetzt negativ wirkt – was Merkel bezweifelt hatte –, erklären die Professoren mit dem Vertrauensschaden in der Wirtschaft. Allerdings sehen das nicht alle Weisen so: Der gewerkschaftsnahe Ökonom Peter Bofinger verteidigte den Mindestlohn und betonte, im Friseur-Handwerk habe die Lohnuntergrenze nicht zu Arbeitsplatzverlusten geführt.

Unterm Strich ist der Rat in seiner Konjunkturprognose noch skeptischer als die Regierung: Für dieses Jahr senken die Sachverständigen ihre Erwartung für das Wachstum in Deutschland von 1,9 Prozent auf 1,2 Prozent, für 2015 sagen sie 1,0 Prozent Wachstum voraus – die Regierung war vor wenigen Wochen noch von 1,3 Prozent ausgegangen. Allerdings betont das Gutachten auch, dass Arbeitsmarkt und Binnennachfrage stark und robust seien: „Deutschland ist immer noch eine starke Volkswirtschaft“, sagte Schmidt.

Für Konjunkturprogramme sieht das Gutachten daher auch keinen Anlass; mehr als das jetzt geplante Zehn-Milliarden-Investitionsprogramm sei nicht notwendig. Stattdessen solle die Koalition den Konjunkturdämpfer dazu nutzen, den Kurs stärker auf Wachstum auszurichten. Angekündigte Reformen wie das Gesetz zur Tarifeinheit oder die stärkere Regulierung von Zeitarbeit und Werkverträgen sollten aufgegeben werden, dafür sei eine Steuerentlastung durch die Dämpfung der kalten Progression angebracht.

Merkel versprach bei der Entgegennahme des Gutachtens, die Regierung werde sich konstruktiv damit auseinandersetzen. Einiges an der Kritik teilt sie wohl insgeheim. So hat die Kanzlerin bereits die Devise ausgegeben, dass es neue Belastungen für die Wirtschaft über die vereinbarten Projekte hinaus nicht geben dürfe. Ideen wie eine Anti-Stress-Verordnung für Betriebe sind längst gekippt, anderes wie die Mietpreisbremse entschärft.

Aber der nun geforderte Kurswechsel ist in dieser Koalition kaum durchsetzbar. Die Experten-Kritik treibt stattdessen einen Keil zwischen Union und SPD. Bei CDU und CSU hatten vor allem Wirtschaftspolitiker Mindestlohn und Rente mit 63 nur mit geballter Faust zugestimmt, jetzt sehen sie sich in ihrer Kritik bestätigt. So begrüßte der wirtschaftspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Joachim Pfeiffer, den Ökonomen-Rat mit den Worten: „Die Zeit der sozialen Wohlfühlprogramme ist vorbei.“ Deutschland brauche eine Agenda 2030 für mehr Wettbewerbsfähigkeit.

Die SPD zeigte sich verärgert über die Kritik der Professoren an ihrer Politik. Generalsekretärin Fahimi sagte, das Gutachten werde wissenschaftlichen Anforderungen nicht gerecht, die Kritik am Mindestlohn sei „hanebüchen“.