Liberal will irgendwie jeder sein, aber auf keinen Fall FDP wählen. Zu Besuch bei Menschen in Hamburg, die noch an die Partei glauben und sie wieder aufrichten wollen. Und bei einem, der nur noch da rauswollte

Die FDP liegt wie ein angebissenes Käsebrötchen im Kühlschrank der deutschen Demokratie. Die Kruste ist längst trocken, der Käse verwelkt. Aber wegschmeißen möchte man es doch noch nicht. Hat ja mal ganz lecker geschmeckt. Und vielleicht bekommt man doch noch mal Hunger auf ein bisschen Liberalismus. Konstantin Kuhle jedenfalls beißt kräftig zu.

Kuhle ist neuer Chef der Jungen Liberalen, der JuLis, der Nachwuchsorganisation der FDP. Er ist 25 Jahre alt und studiert Jura in Hamburg. Er könnte an jenem lauwarmen Abend eigentlich mit Freunden im Kino sitzen oder in einer Kneipe, er könnte ein Buch im Park lesen oder Fernsehen gucken. Aber Kuhle sitzt vor ziemlich vielen Menschen mit ziemlich grauen Haaren im Plenarsaal des Norderstedter Rathauses und soll gleich ein paar knackige Statements abgeben über die alternde Gesellschaft und den Generationenvertrag. Kuhle ackert sich gerade durchs Schwarzbrot des Politikbetriebs. Er tourt zum liberalen Rest dieser Republik, trifft Landesvorsitzende, hat den Bundeskongress der JuLis vorbereitet, reist zu Seminaren nach Griechenland oder Russland.

Konstantin Kuhle glaubt an die Politik. Er glaubt sogar noch an die FDP.

An der hohen Holzwand im Saal hängen ein Bild des Bundespräsidenten und das Wappen von Norderstedt, Blau und Silber mit einem Kreuz in der Mitte. Neben Kuhle auf dem Podium sitzen der Chef der Handwerkskammer in Lübeck, ein Sozialarbeiter und der Vorsitzende der FDP in Schleswig-Holstein. Der Ortsverband der Liberalen hat eingeladen, sie wollen über Demografie diskutieren. Über „Inhalte“, wie Politiker immer so gerne sagen. Aber erst mal geht es auf dem Podium nur um die eigene Partei. Und ihre neuen Niederlagen bei den Landtagswahlen. 1,4 Prozent in Brandenburg. 2,5 in Thüringen. 3,8 in Sachsen. Innerhalb von nur zwei Wochen flog die FDP in diesem Spätsommer aus drei weiteren Landesparlamenten. Sie ist in keiner Regierung mehr vertreten, im Bundestag in Berlin mussten Westerwelle, Rösler und Co. vor einem Jahr ihre Büros räumen.

Es ist der Monat, in dem Walter Scheel, der liberale Altbundespräsident, mit 94 Jahren in ein Pflegeheim zieht.

Die FDP hat gerade viel mit sich selbst zu tun. Und dann kommt auch noch Konkurrenz aufs Feld. In Hamburg gründeten sich die Neuen Liberalen, getragen von enttäuschten FDP-Mitgliedern, die nach einer sozialeren liberalen Politik suchen. Sie brechen mit einer langen Partei-Tradition.

Seit 1948 gehört die FDP zur Geschichte der Bundesrepublik. Theodor Heuss war der erste Bundespräsident, Hans-Dietrich Genscher stand 1989 als Außenminister auf dem Balkon von Prag, die FDP regierte erst mit Willy Brandt, dann Helmut Schmidt, dann Helmut Kohl. Die Partei prägte die „sozialliberale Ära“ mit, sie stand für das „bürgerliche Bündnis“. Irgendwie waren die Liberalen immer dabei. Doch das Kapitel der Partei schließt sich gerade. Manche sagen: für immer.

Konstantin Kuhle sagt im Saal in Norderstedt: „Ruhe bewahren.“ Die FDP dürfe ein Jahr nach der Bundestagswahl nicht den Kopf verlieren. „Das merken die Wähler.“

Kuhle freut sich deshalb auf die Fragen der Gäste im Saal des Rathauses, er bedankt sich mit einem Schwiegersohnlächeln für die Einladung. Dann nennt er die Rente mit 63 eine Katastrophe. Die Zuschauer applaudieren zum ersten Mal an diesem Abend.

Ria Schröder sitzt vorne in einer Reihe mit ein paar Jungs von den JuLis. Manchmal schaut Kuhle vom Podium zu seinen Leuten. Sie haben Postkarten am Eingang zum Saal ausgelegt. „Mit wem du dein Bett teilst, geht den Staat nichts an“ steht auf einer. Dazu liegen drei Teddybären nebeneinander auf Kissen. Eine andere zeigt die islamische Mondsichel, den Judenstern und das Christuskreuz. „Unser Glaube ist die Toleranz“ heißt es dazu. Und: „Junge Liberale. Lebe Freiheit!“ Keine Partei redet so viel von der Freiheit wie die FDP. Aber will das noch jemand hören?

Ria Schröder trägt eine Jeansjacke, einen Rock und einen Rucksack von Fjällräven, wie ihn oft auch Demonstranten gegen Gefahrengebiete oder Europas Flüchtlingspolitik auf dem Rücken tragen. Schröder ist 22 Jahre alt, sie studiert wie Kuhle Jura an der Bucerius Law School und ist erst seit April Mitglied der FDP. Eigentlich hätte sie sich heute Abend mit anderen neuen Liberalen in einer Kneipe im Karoviertel getroffen, zum JuLi-Stammtisch. Neulich hatten sie dort eine Prostituierte eingeladen, die von der hohen Last der Gewerbesteuern und dem Risiko in ihrem Beruf erzählt hat. Aber weil sie dem Reporter erklären soll, was einen jungen Menschen in Zeiten der größten Krise der FDP in die Partei treibt, sitzt sie heute nicht am Stammtisch.

Ein Auslandssemester in Australien brachte die junge Schröder zur FDP. Die Behörden verbieten dort Alkohol in der Öffentlichkeit und Werbung für Fast Food. „Das war ein absoluter Nanny-Staat“, sagt Schröder. „Aber die Menschen interessiert das gar nicht, sondern sie leben so, wie sie wollen.“ Sie trinken Bier und futtern Burger. Die Politik habe an den Menschen vorbeiregiert. Als Schröder wieder in Deutschland war, suchte sie eine Partei für ihre politischen Ideen. Mit 14 Jahren war sie mal bei der SPD. „Die glauben, dass die Menschen schwach sind und sich nicht selber helfen können.“ Außerdem saßen da fast nur ältere Männer. Die Grünen findet Schröder wichtig, weil ihr Umweltschutz viel bedeutet. Aber die Verbote und ihre Erziehungsrhetorik würden sie zu sehr an den australischen Nanny-Staat erinnern. Und die Gesellschaftspolitik der Union sei ihr zu konservativ. Also landet Ria Schröder bei der Liberalen Hochschulgruppe. Politische Orientierung nach dem Ausschlussprinzip.

Schröder ist den Weg zur FDP langsam gegangen. „Ich hatte ja auch Vorurteile vom Alt-Herren-Verein und kaltherzigen Wirtschaftsfanatikern.“ Dann war Schröder das erste Mal unterwegs mit den Jungen Liberalen. Auf der Schwulen-Parade beim Christopher Street Day an der Alster. Das sei eine „bunte FDP-Gruppe“ gewesen. Alle sympathisch. Vor allem dafür will Schröder jetzt mit den Liberalen eintreten: für eine offene Gesellschaft. „Über den Sinn der Elbvertiefung kann man politisch streiten. Über Sexualität nicht.“

Konstantin Kuhle, der Chef der JuLis, sagt, dass die FDP ein Image-Problem hat. „Wir sind für viele eine Loser-Partei.“ Manche FDPler würden meinen, dass sie auf einem Podium automatisch der Unsympath sein müssen. „Ich weigere mich, immer das Arschloch zu sein.“ Und wer für Marktwirtschaft sei, sei nicht automatisch ein Schwein.

Ist das alles ein großes Missverständnis? Mit den Deutschen und der FDP? Sind wir viel zu wenig liberal, wenn Neonazi-Parteien in vielen Orten mehr Stimmen bekommen als die Partei der Freiheit? Oder wollen die Deutschen liberale Politik, nur sehen sie die nicht mehr bei der FDP? Ist das alles nur ein Problem des Marketings?

Christian Lindner, der nun Bundesvorsitzender ist und den Karren aus dem Dreck ziehen soll, hat nach der verlorenen Wahl eine Unternehmensberatung beauftragt. Es ging um die „Marke FDP“. Die Boston Consulting Group hatte Mitglieder, Wähler und Funktionäre befragt. Die liberalen Inhalte seien gar nicht das Problem, fanden die Berater heraus. Vielmehr die „negative Ausstrahlung der Partei“. Das ewige Dagegen. Gegen Mindestlohn, gegen Vorratsdatenspeicherung, gegen höhere Steuern. Gegen mehr Staat.

Eigentlich hätte es mit Olaf Bohn und der FDP ganz gut funktionieren können. Die ganzen Positionen der FDP, das Nein zur Frauenquote und zum flächendeckenden Mindestlohn, ein Ja zu Bürokratieabbau, überhaupt, diese ganze Sache mit der Eigenverantwortung des Individuums, möglichst frei vom Einfluss des Staates. All das hält Bohn für richtig. Über die FDP aber sagt er: „Hinter dem liberalen Anstrich steckt eher eine Lobby-Partei, die den Interessen der Reichen nachkommt.“

Eine Woche vor der Bundestagswahl im vergangenen Herbst war Bohn in die Partei eingetreten. Das Wahl-Desaster schimmerte schon am Horizont. Er dachte, dass sich im Angesicht der drohenden Bedeutungslosigkeit einiges bewegen würde in der Partei. „Aber da war nur Schockzustand.“

Auf einem seiner ersten Treffen bei der FDP sollte Olaf Bohn noch einmal ans Mikrofon treten, es war eine Tagung des Bezirksverbands in Hamburg-Nord. Bohn sagte, er arbeite mit Drogenabhängigen in einer Beratungsstelle. Ach was, ein Sozialarbeiter in der FDP! Da könne er ja mal für alle erzählen, wie es dazu gekommen sei. Gut fühlte sich das nicht an, sagt der 45 Jahre alte Bohn heute. Als Sozialarbeiter wurde er gefragt: Was machst du hier? Wir haben doch hier nur Ärzte und Anwälte. Würden die Grünen oder die Linke nicht besser als Partei zu ihm passen? Vor ein paar Wochen, nach knapp einem Jahr als Mitglied, ist Bohn aus der FDP wieder ausgetreten.

Bohn steigt über die elektrische Kreissäge auf dem Boden in der sozialen Einrichtung. Neben ihm basteln zwei Männer gerade an einem Billardtisch, im Nebenraum sitzen zwei andere, trinken Bier und spielen Schach. Seit September leitet Bohn die Beratungsstelle in Harburg. Er ist kein Sozialarbeiter, der nach mehr Staat schreit. „Wir müssen die Eigenverantwortung von Hartz-IV-Empfängern stärken, statt sie in staatliche Maßnahmen zu pressen.“ Es sind Sätze, die auch ein Christian Lindner oder ein Wolfgang Kubicki sagen.

Es sind Sätze, die auch Konstantin Kuhle sagt. Der Student ist in einem kleinen Ort nahe Göttingen aufgewachsen. Als er noch ein Jugendlicher war, stritten seine Eltern darüber, ob Helmut Kohl Kanzler bleiben sollte oder nicht. „Jammert mir nichts vor, ich habe Kohl gewählt“ stand auf einem Aufkleber des Vaters. In der Schule demonstrierte Kuhle gegen den Irakkrieg. Auf den Marktplätzen der Stadt verteilten Parteien ihre Parolen auf Flugblättern. „Die Ältesten standen immer bei den Grünen“, sagt Kuhle. Und die jüngsten Flugblätterverteiler bei der FDP. Irgendwann nahmen sie Kuhle mit zum Grillfest im Ortsverband. So fing es an.

Kuhle sagt heute, dass seine Partei Fehler gemacht habe, sie sei zu lange dem „Klischee des Unternehmers hinterhergehechelt“. Aber es gebe junge Firmengründer aus türkischen Familien, die auf der Veddel oder in Harburg leben. „Für die muss die FDP genauso da sein.“ Nicht nur für Ärzte und Anwälte. Neben seiner Arbeit in der Partei verdient Kuhle Geld in einer Kanzlei. Liberale müssten schauen, welche Steine den Menschen in ihrem Alltag im Weg liegen, um den sozialen Aufstieg zu ermöglichen oder Arbeitsplätze zu schaffen. Und dafür reiche eben nicht immer nur ein Dagegen. Beispiel Mindestlohn: „Die FDP muss zeigen, dass sie eine Alternative hat, wenn Menschen von einem Vollzeitjob nicht leben können.“

Konstantin Kuhle und Ria Schröder müssen sich oft Sprüche anhören. FDP, das gehe echt gar nicht klar. Als FDPler müsse man im Moment tapfer sein. „Wie die HSV-Fans“, sagt Ria Schröder. Aber viele würden sie auch bewundern für ihren Einsatz in der Politik, für eine offene Gesellschaft. Sie findet, dass es in Deutschland ein Bedürfnis nach liberaler Politik gebe.

Das findet auch der Sozialarbeiter Bohn. Jeder Fünfte in Deutschland sei Anhänger des Liberalismus, schätzt er. Bohn redet auch lange über junge Unternehmer auf der Veddel, er kritisiert Gefahrengebiete und NSA-Überwachung von E-Mails und Telefonaten. „Doch die FDP schert sich nicht darum.“ Wenn Bohn über die FDP spricht, ist er schon im Wahlkampf-Modus. Vor ein paar Wochen ist er den Neuen Liberalen in Hamburg beigetreten. Die FDP ist jetzt sein politischer Gegner.