AOK-Studie zeigt: „Zappelphilipp-Syndrom“ ist sehr häufig eine Frage des Alters

Berlin. Es ist eine typische Situation wenige Wochen nach der Einschulung: Die Erstklässler gehen gerade lange genug zur Schule, um die ersten Schwierigkeiten zu erleben. Und dann dauert es nicht mehr lange, bis die Klassenlehrer die Eltern erstmals zur Sprechstunde einladen. In den meisten Fällen geht es dann um die Hippeligkeit der Kleinen, ihre große Sprunghaftigkeit und die geringe Konzentrationsfähigkeit. Und schnell ist in den Elterngesprächen die Rede von ADHS.

Inzwischen zählt die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung zu den am häufigsten diagnostizierten Entwicklungsstörungen bei Kindern. Das ergibt eine bislang unveröffentlichte Studie der AOK unter den bundesweit rund 3,5 Millionen Kindern und Jugendlichen im Alter von drei bis 17 Jahren, die bei der Krankenkasse versichert sind. Demnach hat sich die Häufigkeit der ADHS-Diagnosen innerhalb von sieben Jahren verdoppelt: Erhielten 2006 noch 2,3 Prozent der Kinder eine ADHS-Diagnose, waren es 2012 schon 4,6 Prozent. Dabei handelt es sich ausschließlich um handfeste Befunde, die der Arzt mindestens in zwei Quartalen pro Jahr gestellt hat. Verdachtsdiagnosen sind nicht mitgerechnet. Jungen sind demnach doppelt so häufig vom „Zappelphilipp-Syndrom“ betroffen wie Mädchen. Fast jeder zehnte Junge im Alter zwischen neun und elf Jahren bekommt die Diagnose ADHS.

Besonders alarmierend sind die Ergebnisse für die Jüngsten, die gerade in die Schule gekommen sind: Denn die Studie belegt erstmals, dass unter den Erstklässlern ausgerechnet die Jüngeren das höchste Risiko einer ADHS-Diagnose tragen. Also gerade die Abc-Schützen, die erst kurz vor dem gesetzlich festgelegten Stichtag sechs Jahre alt werden – und üblicherweise einen geringeren Entwicklungsstand aufweisen als ihre älteren Mitschüler. Dagegen werden ältere Kinder, die bei der Einschulung den sechsten Geburtstag schon länger hinter sich haben, seltener als ADHS-Patienten behandelt.

So liegt die ADHS-Häufigkeit bei den jüngsten Kindern des Schulanfänger-Jahrgangs 2012/2013 bei 6,3 Prozent. Bei den ältesten Schulkameraden desselben Schuljahrgangs beträgt sie nur 5,4 Prozent. Damit haben die jüngsten Kinder dieses Jahrgangs ein erheblich höheres Risiko, dass der Arzt eine ADHS-Diagnose stellt und womöglich Psychopharmaka einsetzt. Für diese Kinder kann der Befund bedeuten: Altersgerechte Verspieltheit und typische Unbändigkeit werden mitunter als Symptome gedeutet, die zu einer voreiligen ADHS-Behandlung führen.

„Wenn Kinder im Schulunterricht andauernd aufstehen, herumlaufen und auf die Ermahnungen der Lehrer nicht reagieren, kann das verschiedene Ursachen haben“, sagt Helmut Schröder, Autor der Studie und Vize-Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK. „Es liegt entweder daran, dass das Kind noch besonders jung ist und lediglich seinem üblichen altersgerechten Spieltrieb folgt. Oder es liegt daran, dass das Kind tatsächlich ADHS hat.“

Viele Lehrer geben den Eltern dieser Kinder den Hinweis auf eine mögliche ADHS-Erkrankung. Besorgte Mütter und Väter tragen diese Vermutung dann eventuell an den Kinderarzt weiter. „So gerät das betroffene Kind möglicherweise vorschnell unter ADHS-Verdacht, dabei wird in vielen Fällen der altersgerechte Entwicklungsstand zu wenig berücksichtigt“, kritisiert Schröder.

Die Wahrscheinlichkeit einer Behandlung mit Psychopharmaka ist für die Schulkinder hoch: Denn mit dem Schulstart steigt auch der Einsatz von Medikamenten. AOK-versicherte Kinder mit ADHS-Diagnose bekamen im Vorschulalter hauptsächlich Ergotherapie und Sprecherziehung. Dagegen wächst bei den Grundschulkindern der Anteil der Patienten, die Wirkstoffe zur Konzentrationsförderung einnehmen, auf 34 Prozent. Damit bekommt jedes dritte Grundschulkind mit ADHS-Diagnose Psychopharmaka – und das trotz der Expertenempfehlung zur Zurückhaltung etwa mit dem Wirkstoff Methylphenidat. Die Präparate wie das weithin bekannte Ritalin sorgen dafür, dass das Kind weniger abgelenkt wird.

Die ADHS-Diagnose ist schwierig. Bislang gibt es keine allgemeingültigen biologischen Tests oder Schwellenwerte zur Feststellung der komplexen Störung. Nach den gängigen Empfehlungen sollten die Symptome wie Unaufmerksamkeit, motorische Unruhe und Impulsivität bereits vor dem sechsten Geburtstag aufgetreten sein, schon mindestens sechs Monate andauern und klar abgrenzbar sein gegen die alterstypische Ablenkbarkeit sowie gegen organische Erkrankungen oder Nebenwirkungen von Medikamenten. Einige Experten sehen ADHS-Diagnosen auch als Folge des Zeitgeists. So gelten hoher Termin- und Erwartungsdruck, der auf den Kindern lastet, mitunter als Auslöser für die Symptome, die zur Diagnose führen können. Das Risiko von Fehldiagnosen ist hoch. „Lehrer, Eltern und Ärzte sollten gründlich Ursachenforschung betreiben“, fordert AOK-Studienautor Schröder.