Vor 25 Jahren wurde SED-Chef Honecker abgesetzt. Für viele Bürger ein überraschender Akt – mit einer langen Vorgeschichte. Egon Krenz löste den Staats- und Parteichef damals ab.

Der Glaube meines Vaters an den Wahrheitsgehalt von Deutschlands größter Boulevardzeitung war bis zu seinem Tod 2007 unerschütterlich. Selbst bei den haarsträubendsten Geschichten und trotz guten Zuredens war er nicht von seiner Überzeugung abzubringen. Das kam so: Im Herbst 1989 durfte er zu einem Besuch von Verwandten in den Westen fahren. Weil er schon kurz vor der Rente stand und dank seiner früheren Arbeit im Uranbergwerk bereits schwer lungenkrank war, konnte er mit dem eigenen Pkw reisen, einem Wartburg 353W. Auf dem Weg ins heimatliche Eisenach (Thüringen) machte er kurz vor der Grenze auf der A5 noch eine kurze Rast, zog aus einem Papierkorb eine „Bild“-Zeitung und las: „Honecker: Mittwoch letzter Arbeitstag“. Es war der 13. Oktober, ein Freitag. Und tatsächlich war am darauffolgenden Mittwoch, dem 18. Oktober, Honecker und mit ihm der größte Teil seiner alten Garde weg vom Fenster der Macht.

Für die meisten Bürger kam das wohl überraschend, weil sie sich nach 40 Jahren uneingeschränkter Parteiherrschaft einfach nicht vorstellen konnten, dass ein Generalsekretär und Vorsitzender des Staatsrates einfach so abtritt. Zumal Honecker, der Saarländer, in all den Jahren eine herausragende Rolle spielte: in den 50er-Jahren als FDJ-Chef, 1961 als Walter Ulbrichts Vollstrecker beim Mauerbau und schließlich seit 18 Jahren als Staats- und Parteichef. Trotzdem war es ein Abgang mit Ansage, der sich nicht nur durch die politischen Ereignisse des Frühjahrs und Sommers andeutete, sondern auch im engsten Führungszirkel Ostberlins vorbereitet wurde. Dort muss auch der Informant der „Bild“-Zeitung gesessen haben. Die revolutionäre Wachsamkeit hatte selbst in der Parteispitze bedenklich nachgelassen – oder noch schlimmer: Da spielte jemand mit dem Zentralorgan des Klassenfeindes über Bande ...

Eine lange Vorgeschichte bis Erich H. abgesetzt wurde

Der eigentliche Akt der Entmachtung begann am 17. Oktober. Wie an jedem Dienstag trat das Politbüro der SED, der innerste Machtzirkel in der DDR, zusammen. Vorsitzender Honecker fragte – offenkundig arglos – nach Ergänzungen der Tagesordnung. Und überraschenderweise gab es diesmal eine. Ministerpräsident Willi Stoph, einst von Honecker im parteiinternen Gerangel um die höchsten Posten ausgebootet, sagte: „Erich, es geht nicht mehr. Du musst gehen!“ Es waren bis auf den Vornamen die gleichen Worte, mit denen Honecker vor 18 Jahren am 3. Mai 1971 seinen Vorgänger und Ziehvater Walter Ulbricht stürzte. In einer Mischung aus Überraschung – spontane Änderungen der Tagesordnung oder freie Debatten zählten nicht zum Markenkern dieses Gremiums – und Parteidisziplin reagierte Honecker trocken: „Gut, dann beginnen wir mit der Aussprache.“

Drei Stunden lang währte das Scherbengericht, und keiner der Genossen ergriff das Wort, um den bisher unangefochtenen Chef zu verteidigen. Auch nicht der für die Misswirtschaft zuständige Chefökonom und bisherige engste Vertraute Günter Mittag. Angeblich soll der allmächtige Stasi-Chef Erich Mielke Honecker schreiend gedroht haben, kompromittierende Informationen, die er besitze, herauszugeben, falls Honecker nicht zurücktrete. In einem Koffer bewahrte er Dossiers über seine wichtigsten Genossen auf. Im Falle Honecker soll es auch um etliche Frauengeschichten gegangen sein. Vor allem aber setzten die Politbüro-Mitglieder Günter Schabowski und Egon Krenz Honecker zu. Sie zählten zu den jüngeren im Kreis der alten Männer und wollten ihre Zukunft retten.

Vor allem kreideten sie Honecker an, dass er elf Tage zuvor den Botschaftsflüchtlingen nachgerufen hatte, ihnen sei keine Träne nachzuweinen. Nicht der erste grobe Missgriff in Sachen Öffentlichkeitsarbeit der vergangenen Wochen. Falls es überhaupt eine gab. Honecker, der sich in den vergangenen Jahren nach seinem Besuch bei Bundeskanzler Helmut Kohl oder ein Jahr später 1988 in Frankreich nah seinem großen Ziel wähnte, der allgemeinen internationalen Anerkennung seines Arbeiter-und-Bauern-Staates inklusive der durch die BRD, verstand die Welt nicht mehr. Die Fälschung der Kommunalwahlen im Frühjahr 1989 und alle Erklärungen in dieser Sache überließ er Egon Krenz, dem „Wahlleiter“. In Moskau regierte seit Jahren mit Michail Gorbatschow ein Reformer, mit dem er nichts anfangen konnte. Als im Sommer die Besetzungen bundesdeutscher Botschaften in Warschau, Prag und Budapest die Lage verschärften, lag Honecker nach einer schweren Gallenkolik im Krankenhaus. Später wurde er operiert, wobei auch noch ein Nierentumor entdeckt wurde. Kurz: Der Generalsekretär war außer Gefecht und weitgehend sprachlos, während sich im Land eine immer bedrohlichere Lage zusammenbraute. Der einzige bleibende Satz aus dieser Zeit von ihm fiel im August bei der Übergabe eines 32-Bit-Prozessors durch das Kombinat Mikroelektronik Erfurt: „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.“

Bei der Abstimmung Honecker abzulösen waren sich alle einig

Ein weiterer kolossaler Irrtum. Zumal nach Ungarns Grenzöffnung und der Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge der Druck im Kessel DDR weiter stieg. Selbst Gorbatschows Warnung am 40. Jahrestag der DDR in Berlin „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ (im Originalwortlaut: „Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“) kam nicht mehr bei ihm an. Dafür ließ er am Abend Demonstranten in Berlin und Leipzig niederknüppeln und festnehmen. Was schließlich in die entscheidende Montagsdemonstration am 9. Oktober in Leipzig mündete. Die bewaffnete Staatsmacht kapitulierte vor 70.000 friedlich demonstrierenden Bürgern. Spätestens das dürfte bei den Putschisten im Politbüro Alarmstufe Rot ausgelöst haben. Am Ende einer Krisensitzung am 10. und 11. Oktober 1989 forderte das Spitzengremium Honecker auf, bis Ende der Woche einen Lagebericht abzugeben. Krenz sicherte sich gleichzeitig die Unterstützung von Armee und Stasi und arrangierte ein Treffen zwischen Gorbatschow und Politbüromitglied Harry Tisch, der den Kremlchef am Rande eines Moskaubesuchs einen Tag vor der Sitzung über die geplante Absetzung Honeckers informierte. Gorbatschow wünschte viel Glück, das Zeichen, auf das Krenz und die anderen gewartet hatten.

Als die Generalabrechnung am 17. Oktober im Politbüro vorüber war, kam es zur Abstimmung. Der Beschluss, Honecker abzulösen, fiel einstimmig. Wie es sich für einen guten Kommunisten gehörte, votierte auch der 77-Jährige gegen sich selbst. So viel Parteidisziplin musste sein. Die offizielle Entmachtung kam schließlich am Folgetag. Für jenen Mittwoch, den 18. Oktober, wurde das Zentralkomitee der SED (ZK) überstürzt einberufen. Dort erklärte Honecker: „Nach reiflicher Überlegung bin ich zu folgendem Entschluss gekommen: Infolge meiner Erkrankung und nach überstandener Operation erlaubt mir mein Gesundheitszustand nicht mehr den Einsatz an Kraft und Energie, den die Geschicke der Partei und des Volkes heute und künftig verlangen.“ Dem ZK wurde zudem vorgeschlagen, neben Honecker auch Mittag und den Chefideologen Joachim Hermann abzusetzen – was auch geschah. Egon Krenz, von Honecker selbst als sein Nachfolger vorgeschlagen, wurde per Akklamation einstimmig zum neuen Generalsekretär der SED gewählt.

„Wie wird das jetzt weitergehen?“

Krenz hielt im ZK und später im DDR-Fernsehen seine Antrittsrede – und beging gleich einen schweren Fehler: Mit den Worten „Liebe Genossen“ wandte er sich an sein Publikum. Doch so wollten die allermeisten nicht angesprochen werden. Selbst bei den tatsächlichen Parteimitgliedern, denen diese Anrede zustand, keimten längst Zweifel an der Allwissenheit und Allmacht der SED. Immerhin räumte Krenz ein, die Partei habe „in den vergangenen Monaten die gesellschaftliche Entwicklung in ihrem Wesen nicht real genug eingeschätzt und nicht rechtzeitig die richtigen Schlussfolgerungen gezogen“. Nun aber werde sie „eine Wende“ einleiten. „Wir werden die politische und die ideologische Offensive wiedererlangen.“

Zu spät. Das Ende der SED-Herrschaft konnte Krenz nicht mehr aufhalten, geschweige denn noch einmal in die Offensive gelangen. Er galt ganz klar als Vertreter der alten Garde, war nicht nur für die Wahlfälschungen im Mai verantwortlich, sondern hatte auch das Massaker der chinesischen Kommunisten im Juni auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking für gut befunden. Das hatte und wollte niemand vergessen. Und so war auch sein politisches Schicksal schon bei seiner Machtübernahme besiegelt.

Am Abend des 18. Oktober saß ich mit meinem Freund Oli in einem Leipziger Lokal. Wir hatten die Nachricht gehört und tranken vor Freude ein, zwei Glas Bier mehr als sonst und waren aufgekratzt – wie alle anderen anwesenden Zecher auch. Hatten wir in den Wochen zuvor noch oft überlegt, ob wir die Letzten sein wollten, die das Licht in der DDR ausmachen, oder doch lieber gleich den Weg gen Westen suchen sollten, debattierten wir nun über anderes. „Wie wird das jetzt weitergehen?“, fragte mich Oli. Mit Prognosen bin ich normalerweise vorsichtig. Doch jetzt war ich mir ziemlich sicher: „Weihnachten ist Krenz weg.“ Diesmal lag ich nur knapp daneben. Krenz musste bereits am 3. Dezember seinen Hut nehmen.