Aufruhr in der CDU: In biografischen Interviews zog Altkanzler Helmut Kohl über Freund und Feind her. Nun werden die „Kohl-Protokolle“ gegen seinen Willen veröffentlicht.

Berlin. Es ist wohl ein schwerer Vertrauensbruch, zumindest eine Indiskretion – und möglicherweise sogar ein kapitaler Rechtsbruch. Der Journalist Heribert Schwan, dem Helmut Kohl über 600 Stunden lang Tonbandinterviews für die Verfertigung seiner Kanzler-Biografie gab, hat das Material nun für eine Veröffentlichung auf eigene Rechnung genutzt. Anders als im von Kohl penibel geglätteten Biografiewerk (bislang drei Bände), geht es in dem von Schwan und dem Journalisten Tilman Jens jetzt verfassten Enthüllungsbuch („Vermächtnis – die Kohl-Protokolle“) ungeschützt und derbe zur Sache. So berichtet der „Spiegel“ in seiner aktuellen Ausgabe.

Klartext vom Altkanzler über Freund und Feind – so wird Kohl zitiert aus jenen Oggersheimer Kellergesprächen, zu denen er den WDR-Journalisten Schwan ab 2001 empfangen hatte. Dabei ließ sich Kohl vertraglich zusichern, die alleinige Entscheidung über Form und Inhalt jedweder Veröffentlichung zu behalten. Nun aber gibt es doch zu lesen, was Kohl wohl wörtlich gesagt hat, aber niemals öffentlich zitiert sehen wollte. Da ist vom „Volkshochschulgehirn“ Wolfgang Thierse die Rede, weil dieser die Wende in der DDR nicht dem ökonomischen Zusammenbruch, sondern den Leipzigern Montagsdemonstranten zuschrieb.

Despektierliches erfährt man auch über Kohls Sicht auf die Bundeskanzlerin, die er einst gefördert und als Frauenministerin ins Kabinett geholt hatte. „Frau Merkel konnte ja nicht richtig mit Messer und Gabel essen. Sie lungerte bei den Staatsessen herum, sodass ich sie mehrfach zur Ordnung rufen musste“, wird Kohl zitiert. Und über die spätere CDU-Vorsitzende und den zeitweiligen Unionsfraktionschef Friedrich Merz spottet Kohl: „Die Merkel hat keine Ahnung, und der Fraktionsvorsitzende ist ein politisches Kleinkind.“

Wenig Schmeichelhaftes ist auch über den Erfinder von Glasnost und Perestroika, Michail Gorbatschow, zu lesen, den Kohl im vertraulichen Gespräch mit Heribert Schwan schlicht als „gescheitert“ bezeichnet. Gorbatschow habe erkennen müssen, „dass er am Arsch des Propheten war“ und sein Regime nicht habe halten können, so konterkariert Kohl die gängige Version vom Gorbatschow als mutigem Reformer. Öffentlich hatte Kohl Gorbatschow über Jahre als Nestor der deutschen Einheit gelobt und sich mit ihm feiern lassen.

Die Kohl-Enthüllungen Schwans sind der einstweilige Höhepunkt im Streit zwischen dem Biografen Schwan und dem Altkanzler um den Zugriff auf das Interview-Material. Erst Mitte Dezember 2013 hatte das Kölner Landgericht Schwan zur Herausgabe der Tonbänder verurteilt. Im März hatte Schwan sie übergeben, zuvor aber Abschriften anfertigen lassen und Revision gegen das Urteil eingelegt.

Zum Zerwürfnis zwischen Schwan und Kohl war es gekommen, nachdem Kohls neue Ehefrau, Maike Richter, ab 2005 auf Schwans biografische Arbeit massiven Einfluss nahm, wogegen sich Schwan erfolglos gewehrt hatte. In der Folge hatte Kohl seinem Biografen die Zusammenarbeit aufgekündigt – ein Recht, dass der Altkanzler sich zuvor ausdrücklich hatte vertraglich zusichern lassen.

Schwan schöpft jetzt aus dem Vollen. Und Stoff hat er reichlich. Der Altkanzler hatte kaum jemanden ausgelassen bei seinen von Schwan protokollierten Wutreden.

Demnach zog Kohl bei den Oggersheimer Kellersitzungen schonungslos gegen seine innerparteilichen Widersacher vom Leder, die im September 1989 beim Bremer CDU-Parteitag seinen Sturz vorbereitet hatten, und jene, die sich nach Bekanntwerden der Spendenaffäre Ende der 1990er-Jahre gegen ihn stellten. Zu Ersteren gehören frühere Parteifreunde wie der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler, der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth, Ex-Bundessozialminister Norbert Blüm und der Ex-Finanz- und spätere Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg. Die „Bremer Stadtmusikanten“ nennt Kohl sie alle zusammen, Blüm einen „Verräter“‚ Stoltenberg „hinterfotzig, aber nicht mutig“, „Späth hat sich der Mischpoke angeschlossen“, giftet Kohl.

Zwei ehemalige Bundespräsidenten bekommen ebenfalls ihr Fett weg. Über Christian Wulff, der ebenfalls als Verschwörer von Bremen bei Kohl in Ungnade gefallen war, sagte dieser laut Schwan/Jens: „Das ist ein ganz großer Verräter. Gleichzeitig ist er eine Null.“ Und über Ex-Bundespräsident Friedrich von Weizsäcker vermutet Kohl: „Am wärmenden offenen Kamin im Bundespräsidialamt war er Ratgeber für diejenigen, denen es um meinen Sturz ging.“

Besonders schmerzhaft muss für Kohl die Abkehr von einst Vertrauten im Zuge der Spendenaffäre Ende der 1990er-Jahre sein. Damals war herausgekommen, das Kohl nicht deklarierte Spenden in Millionenhöhe aus bis heute nicht bekannten Quellen erhalten hatte. Die Affäre hatte Kohl zeitweilig um die Anerkennung seiner politischen Verdienste und letztlich Angela Merkel an die Spitze der Union und ins Kanzleramt gebracht. Töpfer und Holzer seien „wie Kopf und Arsch“, grantelt Kohl über den ehemaligen saarländischen CDU-Vorsitzenden Klaus Töpfer und den in die Spendenaffäre verwickelten Lobbyisten Dieter Holzer, um damit anzudeuten, dass weite Kreise um die Untiefen der Parteifinanzierung gewusst haben müssten.

Juristisch bleibt die Frage bis zu einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs offen, ob die Veröffentlichung der „Kohl-Protokolle“ legal ist. In der Welt sind sie allemal und sicherlich eine dankbare Quelle für eine unabhängige Kohl-Geschichtsschreibung.