Am 9. Oktober 1989 sollte sich das Schicksal der ostdeutschen Revolution entscheiden: Die SED-Führung war entschlossen, die Demokratiebewegung notfalls blutig zu zerschlagen.

Oft wird die Erinnerung an wichtige Ereignisse, deren Zeuge wir geworden sind, durch nachträgliches Wissen überlagert. Manchmal fällt es schwer, sich an den konkreten Ablauf eines solchen Tages zu erinnern, doch es gibt auch Erlebnisse, die so einschneidend sind, dass sie sich in unser Gedächtnis eingebrannt haben und in der Erinnerung wie eine Filmsequenz ablaufen.

Wenn ich an den 9. Oktober 1989 denke, sehe ich die Bilder meiner damaligen Heimatstadt Leipzig, die ich in Schwarz-Weiß mit vielen Grautönen abgespeichert habe: bröckelnde Häuserfassaden, rauchende Schornsteine, marode Straßen, qualmende Trabbis und Menschen, die mit gesenkten Blicken aneinander vorbeihasten.

Der 9. Oktober ist ein Montag. Beim Frühstück mit meiner Frau läuft wie immer der Deutschlandfunk, in dem darüber spekuliert wird, wie dieser Tag in Leipzig ausgehen könnte. Über der Stadt liegt eine unheilvolle Spannung. Zwei Tage zuvor, am 40. Jahrestag der DDR, sind die „bewaffneten Organe“ in Leipzig brutal gegen jene vorgegangen, die friedlich für die Zulassung des „Neuen Forums“ und den Beginn von Reformen demonstriert haben. Aber das war nur ein Vorspiel für diesen Montag, an dem alles auf dem Spiel steht. Nur eines ist sicher: Unmittelbar nach den Friedensgebeten in St. Nikolai und fünf weiteren Kirchen wird es wieder eine große Demonstration geben. Als ich gegen 7.30 Uhr unseren knapp dreijährigen Sohn Jonas mit dem Fahrrad zur Kinderkrippe bringe, beobachtet er begeistert die vielen Polizeifahrzeuge, die schon Richtung Innenstadt unterwegs sind. Mit meiner Frau habe ich vereinbart, dass sie Jonas nach der Arbeit abholen und mit ihm zu Hause bleiben wird.

Gegen 14 Uhr verlasse ich unsere Wohnung in der Südvorstadt und fahre mit der Straßenbahn ins Zentrum. Die Bahn, zu dieser Tageszeit normalerweise halb leer, ist voller Menschen, die bedrückt sind und schweigen. Als wir die unmittelbar am Innenstadtring gelegene Haltestelle Wilhelm-Leuschner-Platz erreichen, rollen Schützenpanzerwagen ins Stadtzentrum. „Heute Abend wird es Tote geben“, sagt ein alter Mann in die Stille, niemand äußert sich dazu.

Aus allen Richtungen strömen Menschen in die Innenstadt, in der manche Geschäfte schon am frühen Nachmittag geschlossen werden. Da ich als freier Mitarbeiter der sächsischen Kirchenzeitung „Sonntag“ über das Friedensgebet berichten soll, bin ich mit Christian Führer, dem Pfarrer von St. Nikolai, verabredet.

Die innerhalb des Rings gelegene Nikolaikirche ist zu diesem Zeitpunkt schon überfüllt. „Das sind nicht nur unsere Leute, da sitzen auch ungefähr 600 Genossen drin, schon seit heute Mittag“, erfahre ich im Kirchenbüro. Welchen Auftrag haben diese Leute? Niemand weiß es, aber es bleibt auch kaum Zeit, darüber nachzudenken. Wie vor jedem Montagsgebet gibt es gegen 16.30 Uhr eine kurze Vorbesprechung, an der Superintendent Friedrich Magirius, Christian Führer und die Mitglieder der Basisgruppe teilnehmen, die die Andacht gestalten. Allen ist klar, dass an diesem Montag eine Entscheidung fallen wird. Die Jubelfeiern zum 40. Jahrestag sind vorbei, der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow, der als Staatsgast daran teilgenommen hat, ist wieder abgereist. Viele Demonstranten werden wieder „Gorbi, hilf uns!“ rufen, wissen aber, dass sie an diesem Abend vom Hoffnungsträger des Ostblocks nichts erwarten können.

Die DDR-Führung ist offenbar entschlossen, Ernst zu machen. Was sie darunter versteht, konnten wir vor drei Tagen in der „Leipziger Volkszeitung“ lesen. Bestimmt nicht zufällig versprach in der Leserbriefspalte Günter Lutz, der Kommandant einer paramilitärischen Arbeitermiliz, dass man die „konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam“ unterbinden werde, „wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand“. Wir verstehen das als unverhohlene Drohung mit der „Pekinger Lösung“. So wie die chinesische Führung am 4. Juni 1989 die Demokratiebewegung zusammengeschossen hat, so kann es auch an diesem Abend in Leipzig geschehen.

Noch vor ein paar Monaten hätte eine solche Drohung wahrscheinlich die Straßen in Leipzig leer gefegt. Aber inzwischen haben wir genau das, was Lenin als revolutionäre Situation bezeichnet hat: Die Herrschenden können nicht mehr so wie bisher. Und das Volk will nicht mehr so wie bisher. Die Menschen, die jeden Tag erleben, wie Verwandte, Freunde, Nachbarn und Arbeitskollegen über Nacht verschwunden sind, weil auch sie das Land verlassen haben, lassen sich von Drohungen nicht mehr einschüchtern und sind auch bereit, ein hohes persönliches Risiko in Kauf zu nehmen. Und es sind nicht nur Leipziger, die in die Innenstadt strömen, es kommen auch Menschen aus dem Umland und anderen sächsischen Großstädten. Ich schaue in ernste Gesichter, die entschlossen sind und in gespannter Erwartung. Wir alle wissen: Heute wird sich entscheiden, ob die Freiheit eine Chance bekommt oder ob sie mit Gewalt erstickt wird.

Dicht an dicht stehen die Menschen auf dem Nikolaikirchhof und den angrenzenden Straßen. Die Nikolaikirche und fünf weitere Kirchen sind schon lange vor 17 Uhr total überfüllt. Die Genossen, die durch Parteiauftrag dazu verpflichtet wurden, in St. Nikolai die Kirchenbänke zu drücken, verhalten sich still. Einige von ihnen werden später sagen, dass die Atmosphäre in der Kirche sie tief berührt hat. Pfarrer Gottfried Weidel und die Mitglieder der Basisgruppe aus dem Stadtteil Gohlis, die dieses Friedensgebet gestalten, sprechen die Seligpreisungen aus der Bergpredigt. „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen“, sagt eine junge Frau mit fester Stimme, während sich in der Menge vor der Kirche lautes Geschrei erhebt. Niemand in dem völlig überfüllten Raum weiß, was in diesem Moment auf den Straßen geschieht. Gleich zu Beginn liest Peter Zimmermann, ein Leipziger Universitätstheologe, einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit, den auch Gewandhauskapellmeister Kurt Masur und der beliebte Kabarettist Bernd-Lutz Lange, erstaunlicherweise aber auch drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung unterzeichnet haben:

„Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserem Land betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit der Regierung geführt wird.“

Hatten wir richtig gehört? Hatten drei hohe SED-Funktionäre das tatsächlich unterschrieben? Welche Sprengkraft dieser schlichte Text trotz seiner beschwichtigenden Formulierungen tatsächlich besitzt, kann nur ermessen, wer sich die hochdramatische Situation dieses Tages vor Augen führt. Obwohl es um „die Weiterführung des Sozialismus“ geht und ein Dialog mit der Regierung höflich erbeten wird, muss dieser Text Honecker und dem Politbüro als Verrat erscheinen, auch oder gerade weil ihn drei mächtige SED-Funktionäre mittragen. Noch am Tag zuvor wäre für die SED ein friedlicher Dialog mit Andersdenkenden völlig unvorstellbar gewesen. Allen in der Kirche ist klar, dass sich dieser Appell zur Besonnenheit weniger an die ohnehin friedlichen Demonstranten richtet, sondern an die „bewaffneten Organe“, die überall in der Stadt in Stellung gegangen sind. Und diese können ihre Ohren nicht verschließen, denn der Text, den Masur Stunden vorher im Studio des Senders Leipzig auf Band gesprochen hat, ist gleich mehrfach aus den Lautsprechersäulen des Leipziger Stadtfunks zu hören.

Nach dem Ende des Friedensgebets muss uns der Küster den Weg durch die Menge bahnen, damit wir das Pfarrhaus auf der anderen Seite des Nikolaikirchhofs erreichen können. Monate später werden wir erfahren, dass er Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi war.

Kurz darauf stehe ich neben Uwe Schwabe und Frank Sellentin, die zu den wichtigsten Bürgerrechts-Aktivisten in Leipzig gehören, an einem Fenster in der Privatwohnung von Superintendent Magirius im zweiten Stockwerk eines Hauses am Nikolaikirchhof. Am Nebenfenster beobachten Magirius, der sächsische Landesbischof Johannes Hempel und Matthias Berger, ein einflussreicher Leipziger Pfarrer, das Geschehen. Die Menschen drängen sich auf dem Nikolaikirchhof und den angrenzenden Straßen, eigentlich in der ganzen Innenstadt – ein unglaublicher Anblick. Sie halten brennende Kerzen in den Händen, singen „We Shall Overcome“, „Dona nobis pacem“ und die erste Strophe der „Internationale“. Warum ausgerechnet die „Internationale“? Weil es da heißt: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.“

Wir stehen da, schweigen und spüren, dass dies ein historischer Abend, eine historische Nacht werden wird, wie immer es auch ausgehen mag. Werden die jungen Wehrpflichtigen, die am Hauptbahnhof auf ihren Einsatzwagen warten, heute schießen? Werden die Bereitschaftspolizisten mit Schlagstöcken auf die Menge losprügeln? Werden sie ihre Hunde auf die Menschen hetzen? Werden die Angehörigen des Stasi-Wachregiments, die in voller Bewaffnung in der „Runden Ecke“, der Bezirksdirektion des Ministeriums für Staatssicherheit, warten, die erste Reihe der Demonstranten unter Feuer nehmen? Das alles ist möglich, es ist sogar wahrscheinlich.

Irgendwann setzt sich der Demonstrationszug langsam in Bewegung. Ich denke, ich höre nicht richtig, denn Pfarrer Berger scheint nicht auf einen friedlichen Ausgang zu hoffen. Er sagt: „Jetzt laufen sie in ihr Verderben.“ Jahre später werden wir erfahren, dass er als IM „Carl“ zu den wichtigsten kirchlichen Informanten der Stasi gehört hat. Nach vielleicht einer Stunde nimmt Magirius einen Anruf vom Pfarrer der Thomaskirche entgegen, wo die Spitze des Demonstrationszugs inzwischen angelangt ist. Sie sind also am Hauptbahnhof und an der Stasi-Zentrale vorbeigekommen. Und es ist nicht geschossen worden. 70.000 friedliche Demonstranten laufen über den Ring und rufen zum ersten Mal gemeinsam den Slogan, vor dem selbst die hochgerüstete Staatsmacht nur noch kapitulieren kann: „Wir sind das Volk!“

Zu dieser Zeit ist der Nikolaikirchhof noch immer voller Menschen, obwohl die Spitze des Demonstrationszugs schon wieder den Ausgangspunkt, den damaligen Karl-Marx-Platz, erreicht und damit den Innenstadtring einmal komplett umrundet hat. Es ist nicht leicht, sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. Ich komme bis zur Goethe-Straße, wo eine Wagenkolonne der Arbeiter-Kampfgruppen parkt. Die Uniformierten stehen neben den Lastwagen und reden mit den Demonstranten. „Ich hätte doch gar nicht auf euch schießen können“, sagt ein Kommandant, der dann unter Tränen hinzufügt: „Meine Tochter ist doch auch dabei.“

An diesem Abend in Leipzig haben die Friedfertigen die Mächtigen besiegt. Die Menschen, die eben noch voller Angst beisammengestanden hatten, sind von einer unendlich schweren Last befreit, viele nehmen sich spontan in die Arme, und eigentlich hätte man tanzen sollen. In den letzten zwei Stunden hat sich Geschichte ereignet, dieses Gefühl der Befreiung werde ich nie vergessen.

Ein Vierteljahrhundert später zeichnet die Deutsche Nationalstiftung stellvertretend für die Leipziger Montagsdemonstranten drei Persönlichkeiten aus, die entscheidend zur friedlichen Revolution von 1989 beigetragen haben: die Pfarrer Christian Führer und Christoph Wonneberger sowie den Bürgerrechtler Uwe Schwabe. Als ich dem Nikolai-Pastor am 31. Januar 2014 in Leipzig zum letzten Mal persönlich begegne, ist er schon von seiner schweren Lungenkrankheit gezeichnet und kann nur mühsam sprechen. Er erinnert sich aber noch sehr genau an die entscheidende Nacht in Leipzig. Deren 25. Jubiläum kann er nicht mehr miterleben, am 30. Juni 2014 stirbt Christian Führer im Alter von 71 Jahren. Ich erinnere mich noch an einen Satz, den er am späten Abend des 9. Oktober 1989 formuliert hat: „Heute Nacht ist die DDR nicht mehr dieselbe, die sie noch am frühen Morgen gewesen ist.“ Dass diese Nacht die DDR nicht nur verändern, sondern sogar schon sehr bald überflüssig machen würde, lag damals noch jenseits von dem, was wir uns vorstellen konnten.

Literaturtipp: „Das Revolutionsjahr 1989“. Ein Lesebuch mit Jahreschronik. Hrsg. von der Stiftung Friedliche Revolution. 208 S., 19,89 Euro