Der Altkanzler wirbt bei einem Wirtschaftskongress in Rostock um Verständnis für Moskau und kritisiert die Sanktionen des Westens. Die aktuelle europäische und amerikanische Politik hält Schröder für naiv.

Rostock. Diesmal ist es nicht Wladimir Putin, sondern Aleksander Jurjewitsch Drosdenko, den Gerhard Schröder umarmt. Drosdenko ist der Gouverneur des Leningrader Gebietes; an diesem Mittwochvormittag zählt er neben dem Altbundeskanzler zu den Rednern beim „Russlandtag“ in Rostock-Warnemünde. Die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern hat geladen, etwa 600 Gäste sind da, vor allem Unternehmer aus Deutschland und Russland. Man tagt im Hotel Neptun, in dem zu DDR-Zeiten die Stasi Regiment führte.

Es wird viel geklagt an diesem Tag, im Publikum wie auf dem Podium. Doch dieser Unmut bezieht sich nicht etwa auf die russische Aggression in der Ukraine, die Besetzung der Krim oder Putins Reformunfähigkeit – nein, bemängelt werden stattdessen die Reaktionen des Westens, vor allem die Sanktionen. Die Gäste des Russlandtages erregen sich über „Frau Merkel und unseren Ober-Popen“ (womit der Bundespräsident gemeint ist). Ältere Männer tauschen sich im Publikum aus über goldene Sowjet-Zeiten und schwärmen von „Solidarität“, freundlichen Polizisten und Schokoladenbutter unter Leonid Breschnew.

Von einer „Veranstaltung in schwierigen Zeiten“ spricht Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD), und versucht Kritik an seiner Veranstaltung zu relativieren mit dem Hinweis, es handle sich um „ein regionales Wirtschaftstreffen“. Man werde „hier und heute keine außenpolitischen Konflikte lösen können“, prognostiziert Sellering. Das von ihm regierte Land pflegt engste wirtschaftliche Verbindungen mit Russland, es ist der viertwichtigste Handelspartner. Werften sind in russischer Hand, Jobs hängen an Russland. Der Ukraine-Konflikt und die vom Westen verhängten Sanktionen stören also die (bescheidene) Wirtschaftskraft Mecklenburg-Vorpommerns.

Genau da setzt Putins Mann in Berlin an, der nach Rostock gekommen ist. Russlands Botschafter Wladimir Grinin beklagt, der Warenumsatz sinke, allein im Juli sei der deutsche Export in seine Heimat um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zurückgegangen. Für das gesamte Jahr drohten Einbußen von 25 Prozent, sagt Grinin. Nur während der Finanzkrise war alles noch schlimmer. Grinin präsentiert viele Zahlen, seine Ursachenanalyse ist dafür umso unterkomplexer. „Wir müssen noch einmal nachdenken“, sagt Grinin: „Brauchen wir das wirklich?“ Seine Frage aber bezieht er nicht auf die annektierte Krim oder Putins Propaganda-Projekt Neurussland, sondern auf die von EU und USA verhängten Sanktionen: „Wir wollen diese Spiele nicht haben.“

Ganz in altem Sowjet-Stil präsentiert Schröders Kumpel Drosdenko Zahlenreihen. Drosdenko beschwört den Warenaustausch, den Handel mit Gasturbinen, die Zusammenarbeit der Holz verarbeitenden Industrie. Das Publikum erfährt von den großen Erfolgen eines karto-polygrafischen Kombinates, nicht zu vergessen des „Nordwestlichen nanotechnologischen Zentrums“. „Der Durchschnittslohn liegt bei 29.000 Rubel“, sagt Drosdenko, das – also knapp 600 Euro – sei für deutsche Verhältnisse eher wenig, „und deshalb vielleicht interessant für Investitionen“. Nicken im Publikum, Geschäftsführer und Generaldirektoren, Gesellschafter und „Consultants“, zu vier Fünfteln Männer in dunklen Anzügen.

Sie alle applaudieren lange, während der Altkanzler ans Rednerpult tritt. Schröder dankt dem „lieben Erwin“ (Sellering) für die Organisation des Russlandtages. Rückgrat beweise der nämlich, statt „nur ein Blatt im Winde des publizistischen Mainstreams“ zu sein. Beifall im Saal. „Einige Bemerkungen zu den politischen Beziehungen“ will Schröder dann aber doch machen. Er wirbt für ein „gemeinsames Geschichtsverständnis“, und – „eine sehr ferne Vision“ – ein europäisches Buch für den Geschichtsunterricht. Ein solches Projekt sei allemal besser, „als ständig den Zeigefinger zu erheben und der anderen Seite ein vermeintlich falsches Geschichtsbild und einen falschen Wertekanon vorzuwerfen“. Auf gut Deutsch: Der Westen soll darauf verzichten, für Freiheit, Gleichberechtigung, Emanzipation zu werben – und die Defizite in Russland nicht weiter bemängeln.

Ein zustimmendes Raunen geht durch den Saal, als Schröder sich über den „Kampfbegriff“ des „Russland-Verstehers“ mokiert. Er diskreditiere alle, die differenzieren, sagt Schröder: „Ich stehe dazu, dass ich Russland, seine Menschen, seine politische Führung verstehen will. Ich schäme mich nicht dafür, im Gegenteil: Ich bin stolz darauf.“ Donnernder Applaus. Schröder beruft sich auf die „alte Entspannungspolitik“ – also jene Politik, die in den 80er-Jahren, Annäherung ohne Wandel erreichen wollte.

Die aktuelle europäische und amerikanische Politik hält Schröder für naiv. Er wettert gegen die Sanktionen, nennt es „eine Illusion, zu glauben, dass Russland international isoliert ist oder zu isolieren sei“. Instabilität in Europa sei „nicht nur, aber auch eine Folge der Politik des Westens“. Vorsichtige kritische Worte gegenüber Russland lässt Schröder nur fallen, wenn es um den Handel geht. Zu Eigentums- und Investitionsgarantien und – in dieser Reihenfolge – zu einer „unabhängigen Justiz“ müsse sich Moskau bekennen. Von „maßloser Korruption“ spricht Schröder und einem „Mangel an Rechtsstaatlichkeit, jedenfalls gelegentlich“. Menschen- und Bürgerrechte? Diese Begriffe fallen nicht. Sie sind ebenso tabu, wie während des gesamten Vormittages nicht einmal das Wort Krim zu hören ist, weder der Ortsname Donezk noch der Begriff malayisches Passagierflugzeug. Stattdessen ist von „Ereignissen“ und „Entwicklungen“ die Rede.

In der Pause klagen sich die Unternehmer gegenseitig ihr Leid. Traurig nippen die Freunde Russlands am Kaffee, ja, ja, das Geschäft sei rückläufig. Neben dem Kuchenbüfett hat die Firma Gazprom einen Stand aufgebaut. Kommt Herr Schröder hier noch vorbei? „Herr Schröder?“, fragt der junge Mann im schnieken Anzug : „Vielleicht kommt er aus Interesse. Wir haben ihn aber nicht eingeplant.“