Der Hamburger Anwalt Mahmut Erdem hilft Eltern, deren Kinder in den Dschihad ziehen. Auch die Behörde arbeitet an einer Beratungsstelle – die Debatte über das Konzept dauert jedoch an.

Hamburg. Mahmut Erdem kannte den Jungen noch von damals. Acht Jahre war er alt, ein aufgeweckter Bursche, er huschte durch sein Büro. Die Mutter saß an Erdems schwerem Nussbaumtisch und sprach mit dem Rechtsanwalt über das anstehende Verfahren. Die Frau aus Osdorf wollte sich von ihrem Mann scheiden lassen. Jahre ist das her. Neulich, erzählt Erdem, saß die Mutter wieder bei ihm im Büro. Sie weinte, konnte kaum klare Gedanken fassen. Und sie war alleine zu Erdem gekommen. Ihr Sohn lebt nicht mehr.

Die Mutter, selbst stark gläubig, hatte Erdem erzählt, dass der Junge mithilfe einer islamistischen Gruppe ausgereist sei, nach Syrien in den Krieg. Dort soll er sich der Terrorgruppe Al-Nusra-Front angeschlossen haben. In Gefechten mit kurdischen Kämpfern wurde er getötet. „Bitte helfen Sie mir“, sagte die Mutter zu Erdem. Er sei doch Anwalt, kenne auch viele Kurden. „Können Sie nichts machen? Bitte holen Sie die Leiche meines Kindes zurück!“ Das waren die Worte der Frau, von denen Erdem sagt: „So etwas geht mir nahe.“

Erdem wusste, dass die Geschichte der Mutter kein Einzelfall ist. Eine andere Frau hat derzeit Kontakt zu ihrem Sohn im Krieg, per Satellitentelefon. Wo genau er kämpft, weiß die Mutter nicht. Aber die Fotos ihres Sohnes mit Gewehr und Militärhose und Bilder, wie er im Wüstensand hockt, machen ihr Angst. Zuletzt berichtete das Abendblatt über einen weiteren Fall, einen 18 Jahre alten Jungen aus Altona, der im Heiligen Krieg in Syrien starb.

Rekrutiert werden viele der Kämpfer der islamistischen Gruppen in Europa. In Hamburger Stadtteilen treffen sich die Elternräte, Schulleiter suchen Hilfe beim Lehrerinstitut oder der Polizei. Berater des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben eine Hotline eingerichtet. Derzeit arbeitet das BAMF an 300 Fällen, davon kommen nach Informationen des Abendblatts 70 aus Norddeutschland. Salafisten testen die Grenzen der Toleranz in Stadtteilen und auf Pausenhöfen. Und auch der Rechtsanwalt Mahmut Erdem sagt: „Wir müssen den Familien jetzt helfen – und denen entgegentreten, die Religion missbrauchen.“

Vor einigen Wochen hat Erdem deshalb eine Arbeitsgruppe in Hamburg gegründet. Fast 20 Menschen engagieren sich, Pädagogen sind dabei, genauso wie Psychotherapeuten. Auch fünf betroffene Familien kommen. Einmal in der Woche treffen sie sich. „Viele der Jugendlichen, die nun in islamistischen Gruppen aktiv sind, kommen aus schwierigen Familienverhältnissen“, sagt Erdem. Scheidungen oder verstorbene Eltern gehören häufig in die Radikalisierungsbiografien der Jugendlichen. Wie andere Experten sagt auch Erdem, dass es vielen der jungen Menschen um die Suche nach Identität gehe, wenn sie sich extremen Gruppen anschließen. Soziale Ausgrenzung und negative Erlebnisse mischen sich mit Pubertät und religiösem Fanatismus – so etwa beschreiben viele Fachleute die Ursachen für den starken Zulauf islamistischer Gruppen etwa in Osdorf und Harburg. „Viele Islamisten treten einfach wie Streetworker auf“, sagt Erdem.

Die unabhängigen Experten für Norddeutschland arbeiten in Bremen, beim Beratungsnetzwerk „kitab“, finanziert mit Geld aus dem Bund. Auch die Hamburger Sozialbehörde verweist derzeit noch auf die Bremer Sozialarbeiter, die laut Behörde mit zwei halben Mitarbeiterstellen die Fälle in Hamburg betreuen. Doch seit Monaten heißt es, dass in Hamburg ein eigenes Präventionsnetzwerk und eine Beratungsstelle gegen Islamismus entstehen soll. Schon Ende Juni gab es nach Informationen des Abendblatts in der Behörde ein grobes Konzept. Präsentieren konnte der SPD-Senat bisher noch nichts.

Für die Sicherheitsbehörden aber drängt die Zeit, denn die Zahl der Dschihadisten, die aus Hamburg in den Krieg ziehen, steigt. Und mittlerweile sind bereits zehn Personen aus den Kriegsgebieten zurückgekehrt nach Hamburg. Sie können nun traumatisiert und desillusioniert in der Stadt leben – oder aber noch stärker radikalisiert, fürchtet der Verfassungsschutz. Während Innenbehörde genauso wie CDU und Linkspartei in Hamburg Druck machen, setzt die Sozialbehörde auf „Fingerspitzengefühl“. Die „Wünsche, Ansprüche und Erwartungen aller beteiligten Player“ würden noch miteinander besprochen, heißt es. Mit den anderen „Playern“ sind auch die muslimischen Verbände in Hamburg gemeint, die das Konzept der Beratungsstelle mit ausarbeiten und tragen sollen. Wer mit Vertretern der Muslime spricht, hört nicht selten Kritik, dass auch das Landeskriminalamt und der Verfassungsschutz Teil des Netzwerks sein sollen. Einige sorgten sich, dass Ermittlungen gegen ihre Kinder aufgenommen werden könnten, sobald sich Eltern dort melden. Die Skepsis vieler Muslime gegenüber den Sicherheitsbehörden ist durch die gravierenden Fehler der Ermittler in der NSU-Mordserie noch gewachsen.

Zum anderen fordern die muslimischen Verbände, dass sich das Netzwerk auch gegen Islamfeindlichkeit in Hamburg richtet. Die Stelle solle Angebot für Jugendliche und Eltern sein, deren Kinder in die Fänge von Islamisten geraten und vielleicht auf dem Absprung in ein Kriegsgebiet sind, sagt Mustafa Yoldas Vorsitzender der Schura, des Rates der islamischen Gemeinschaften in Hamburg. „Es ist aber auch der ausdrückliche Wunsch der muslimischen Gemeinde, dass diese Beratungsstelle sich auch an Muslime richtet, die Opfer von Rechtsradikalismus und Islamophobie sind.“ Denn beides hänge miteinander zusammen: der zunehmende Islamismus und die steigende Islamfeindlichkeit in der Gesellschaft, so Yoldas. Auch Sedat Simsek, Vorsitzender des Muslimverbands DITIB-Nord hebt hervor: „Wir möchten den Schwerpunkt nicht nur auf Salafismus alleine legen, sondern auch auf jene Umstände, die zum Salafismus führen können.“ Und dazu würden auch „Diskriminierungserfahrungen“ muslimischer Jugendlicher gehören.

Dass die Beratungsstelle noch dieses Jahr ihre Arbeit aufnimmt, ist unwahrscheinlich. Sowohl Verbände als auch Behörde nennen keine Details mit Hinweis auf die laufenden „guten Gespräche“. Die aber brauchen offenbar Zeit. Solange verweist die Behörde betroffene Familien an Jugendämter, die Polizei oder die speziell zu Islamismus arbeitenden Projekte des Bundes.

Auch Anwalt Erdem fordert Netzwerke gegen Radikalisierung in Hamburg, die Jugendliche vor allem über Fragen zur Religion aufklären. Er hofft, dass sich Imame der Moscheen daran beteiligen. Auch der Sohn der Frau, den er schon als Jungen kannte, habe sich in einer Moschee radikalisiert und dort Islamisten kennengelernt. „Es fehlt bisher die klare Grenze, die Moscheen gegen Salafisten setzen“, sagt Erdem.