Sagenumwoben und Weltkulturerbe: An der historischen Stätte in Eisenach übersetzte Martin Luther die Bibel, hier fand der Legende nach der Sängerkrieg statt, hier tat Landgräfin Elisabeth Gutes.

Am Nachmittag des 4. Mai 1521 holpert eine Kutsche über die schlecht ausgebauten Thüringer Straßen. Im Wagen sitzt der Augustinermönch und Wittenberger Theologieprofessor Martin Luther, der sich in jenen Tagen über einen Mangel an Problemen nicht beschweren kann. Kurz zuvor, als er auf dem Reichstag in Worms seine Fundamentalkritik am Papst und an den kirchlichen Missständen widerrufen sollte, hat er jeden Kompromiss abgelehnt und sich damit einen mächtigen Feind gemacht. Über so viel Unbotmäßigkeit kann Kaiser Karl V. nur den Kopf schütteln. Er will es nicht anders, denkt sich der Monarch und unterschreibt das „Wormser Edikt“, mit dem der Reformator für vogelfrei erklärt wird. Damit ist sein Leben eigentlich nicht mehr viel wert.

Während Luther, der an jenem Tag für ein paar Stunden Möhra, das Heimatdorf seiner Eltern, besucht hat, in Begleitung einiger Freunde Richtung Gotha fährt, ereignet sich ein dramatischer Zwischenfall: Aus dem Wald stürmen fünf vermummte Reiter heran, reißen die Tür der Kutsche auf, greifen sich den prominenten Fahrgast, mit dem sie kurz darauf mit unbekanntem Ziel verschwinden. Luthers Begleiter zittern vor Angst und wissen nicht, ob sie hier gerade Zeuge eines kriminellen Überfalls werden oder es nicht doch gedungene Mörder im Auftrag von Kaiser und Papst sind. Die Nachricht von Luthers Entführung und möglichen Ermordung verbreitet sich deutschlandweit innerhalb weniger Tage. In Nürnberg notiert Albrecht Dürer fassungslos in sein Tagebuch: „O Gott, ist Luther tot, wer wird hinfürt das heilige Evangelium so klar fürtragen. Ach Gott, was hätte er uns in zehn oder 20 Jahren schreiben mögen.“ Die tatsächlichen Hintergründe dieses berühmtesten Kidnappings des 16. Jahrhunderts kommen erst sehr viel später ans Licht.

Denn in Wahrheit, dafür hat der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise gesorgt, ist Luther keineswegs entführt, sondern mit einer höchst konspirativen Aktion lediglich aus der Schusslinie genommen worden. Kaum sind die Reiter mit kurfürstlichem Spezialauftrag außer Sichtweite, stellen sie sich ihrem „Opfer“ höflich vor und bringen Luther an einen schon damals berühmten und von Mythen umwehten, allerdings nur schwer zugänglichen und bestens bewachten Ort: auf die Wartburg.

Am nordwestlichen Saum des Thüringer Waldes erhebt sich das trutzige Bauwerk, das in der Zeit um 1067 von Ludwig dem Springer gegründet wurde. Über Jahrhunderte hinweg war es der Hauptsitz der Landgrafen von Thüringen. „Wart, Berg, du sollst mir eine Burg werden“, soll Ludwig der Springer gesagt haben, als er die strategisch äußerst günstig gelegene Anhöhe entdeckte. Sie hatte allerdings einen erheblichen Schönheitsfehler, da sie sich außerhalb von Ludwigs Herrschaftsgebiet befand. So verfiel der Ludowinger auf eine fragwürdige, am Ende aber erfolgreiche List: Er beauftragte seine Ritter, eimerweise Erde vom eigenen Herrschaftsgebiet auf den Berg zu bringen und sie dort zu verstreuen. Als die Ritter später vor Gericht als Zeugen geladen wurden, rammten sie beim Ortstermin ihre Schwerter in den frisch aufgetragenen Boden und beschworen, dass dies die Erde ihres Landesherrn sei. Was Dichtung und was Wahrheit ist, das lässt sich für die Frühzeit der Wartburg schwer sagen, denn alle Angaben stützen sich im Wesentlichen auf die Reinhardsbrunner Chronik, die teils recht fragwürdige Quellen umfasst, die erst Mitte des 14. Jahrhunderts zusammengetragen wurden.

Sicher ist aber, dass die Wartburg als Sitz der Thüringer Landgrafen diente und schon bald enorme Bedeutung für die deutsche Geschichte erlangte. Ihre Blütezeit dürfte sie Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts erlebt haben, als sie unter der Herrschaft von Hermann I. endgültig zum Hauptsitz der Ludowinger aufstieg. Jetzt war das trutzige Gemäuer auf einmal kulturell enorm angesagt. Dichter und Minnesänger gaben sich die Klinke in die Hand und traten vor einem Publikum auf, das ihre Kunst zu würdigen und zu bewerten wusste. Besonders dramatisch zeigte sich das 1206, als sich die Stars unter den Minnesängern zu einer Art kriegerischem Song-Contest versammelten: Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide waren selbstverständlich dabei, aber auch Heinrich von Ofterdingen, der die Etikette auf recht eigenwillige Weise missachtete: Statt ein Loblied auf den Haus- und Landesherrn Heinrich I. anzustimmen, huldigte er seinem eigenen Herrscher, dem Babenberger Herzog Leopold, was auf der Wartburg nicht besonders gut ankam. Da das schlechteste Lied nach dem für heutige Begriffe etwas brachialen Reglement mit Enthauptung bestraft werden sollte, hatte der Sänger eigentlich schlechte Karten, konnte sein Schicksal dank der Unterstützung des ungarischen Magiers Klingsor dann aber doch noch zu seinen Gunsten wenden. Schöne Geschichte, fand Richard Wagner, der den Stoff 1845 in seiner Oper „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ verarbeitete und damit weltberühmt machte. Historisch verbürgt ist der Krieg der Sänger natürlich nicht, ebenso wenig wie eine andere Legende, die sich mit der Wartburg verbindet: das Rosenwunder. Es geht auf die Landgräfin Elisabeth von Thüringen zurück, eine ungarische Königstochter, die mit dem Thüringer Landgrafen Ludwig IV. verheiratet war. Elisabeth war enorm mildtätig und unterstützte die Armen, was ihre Familie aber nicht besonders schätzte. Trotzdem man es ihr unter Strafe verboten hatte, ging sie eines Tages wieder mit einem Korb voller Brot zur hungernden Bevölkerung. Als ihr Mann, der sie unterwegs beobachtet hatte, sie dazu aufforderte, das Tuch vom Korb zu nehmen, hatten sich die Brote in Rosen verwandelt. Elisabeth starb im Alter von nur 24 Jahren 1231 in Marburg, sie wurde heiliggesprochen und gilt als die Patronin von Thüringen und Hessen.

Unsere Vorstellungen von mittelalterlichen Burgen haben mit der Lebenswirklichkeit der einstigen Bewohner nicht allzu viel zu tun. Burgen sind Wehrbauten und militärisch gesicherte Zufluchtsorte, für die Wohnkomfort keine besondere Rolle spielte. Die erhöhte, frei stehende Lage führte dazu, dass es windig war und die Burgbewohner vor allem im Winter schrecklich froren. Auf der Wartburg verbesserte sich das, nachdem es 1318 infolge eines Blitzschlags zu einem Brand gekommen war, und der Landgraf beim anschließenden Wiederaufbau ein beheizbares Gebäude integrieren ließ, für damalige Verhältnisse ein enormer Luxus. Überhaupt zeigt der um 1155 begonnene Palas, der heute zu den besterhaltenen Beispielen romanischer Baukunst gehört, schon den architektonischen Anspruch eines echten Repräsentationsbaus, der uns eigentlich erst später in der Schlossarchitektur begegnet.

Aber zurück zu Luther. Als dieser am 4. Mai 1521 auf der Burg eintrifft, bezieht er zwar ein aus heutiger Sicht recht spartanisch ausgestattetes Quartier, trotzdem umgibt ihn ein Luxus, der dem Mönch, der hier inkognito unter dem Decknamen „Junker Jörg“ lebt, völlig fremd ist. Und mit Luthers Aufenthalt, der bis zum 1. März 1522 dauert, wird aus dem zu jenem Zeitpunkt für die deutsche Geschichte schon bedeutenden Bauwerk mit einem Schlag ein Schauplatz der Weltgeschichte. Nur ganze elf Wochen braucht der Reformator, um das Neue Testament aus dem Griechischen in ein verständliches und ungemein farbiges Deutsch zu übersetzen, das unsere Sprache und Literatur bis heute prägt.

Auch um Luthers Wartburg-Aufenthalt ranken sich natürlich Legenden, zum Beispiel die Geschichte mit Tintenfass. Als ihn der Leibhaftige im Winter 1521/22 auf seiner Stube belästigte, habe er mit dem Tintenfass nach der Teufelsfratze geworfen und dabei an der Wand einen Fleck hinterlassen. Merkwürdig nur, dass der sonst so auskunftsfreudige Reformator diese Begebenheit mit keiner Silbe erwähnt. Ein realer blauer Fleck an der Wand wird allerdings ab 1650 immer wieder erwähnt, stets im Zusammenhang mit Luthers angeblichem Kampf gegen die Versuchung des Teufels. Verbürgt ist, dass Wartburg-Besucher im 19. Jahrhundert den Fleck bewunderten und teilweise sogar Teile davon als Souvenir von der Wand kratzten, was eine regelmäßige Erneuerung erforderlich machte. Aber das ist längst vorbei, wo einst der Fleck zu sehen war, klafft heute ein Loch, trotzdem erkundigen sich heutige Besucher noch nach der Geschichte.

Mit dem wachsenden Geschichtsinteresse rückt die Wartburg im 19. Jahrhundert noch stärker in den Fokus der Öffentlichkeit. Goethe kommt mehrfach hierher und entwickelt Pläne, das historische Gemäuer zu einem bedeutenden Museum für mittelalterliche sakrale Kunst umzugestalten, was erst einmal scheitert. Und 1817, zum 300. Jubiläum der Reformation, rücken etwa 500 Studenten aus mehreren deutschen Uni-Städten an, um für die Errichtung eines Nationalstaates zu demonstrieren – und gegen die reaktionäre Politik, die sich nach dem Sieg gegen Napoleon schon wieder breitmacht.

Zu jener Zeit ist das geschichtsträchtige Bauwerk längt Deutschlands bekannteste Burg, deren Mythos gleichwohl in ärgerlichem Widerspruch zu ihrem schlechten baulichen Erhaltungszustand steht. Als der Wiederaufbau 1853 beginnt, ist schon klar, dass es hier nicht um eine Rekonstruktion des mittelalterlichen Zustandes gehen wird, sondern darum, die Burg so aufzubauen, wie man sie sich im 19. Jahrhundert wünscht. Und dazu gehört auch eine prächtige künstlerische Ausstattung, die ganz im Geist des Historismus den Genius Loci des Gemäuers beschwören soll. Den Auftrag zur Ausmalung der restaurierten Burg erhält mit dem Österreicher Moritz von Schwind einer der Stars der spätromantischen Historienmaler. 1854/55 realisiert er einen beeindruckenden Zyklus von Wandgemälden, die Szenen aus der thüringischen Geschichte zeigen, darunter das berühmte Rosenwunder und eine bombastische Darstellung des Sängerkriegs.

Dass ein so geschichtsträchtiges Gebäude auch in der Gefahr steht, politisch vereinnahmt zu werden, bewies Thüringens Nazi-Gauleiter Fritz Sauckel, als er 1938 das drei Meter hohe Goldkreuz auf dem Bergfried durch ein Hakenkreuz ersetzen ließ. Nach heftigen Protesten musste es allerdings bald wieder entfernt werden. Und auch die stramm rechten Burschenschafter von heute zog es Jahr für Jahr auf die Burg, wo sie beim Fackelschein alle drei Strophen des Deutschlandliedes schmetterten, bis die Wartburg-Stiftung das von nationalistischen und rassistischen Untertönen begleitete Spektakel in diesem Jahr verbot. Inzwischen wird die Burg für das in drei Jahren anstehende Reformationsjubiläum fit gemacht. Schon seit 2011 läuft die denkmalgerechte Sanierung, die sich der Bund und das Land Thüringen 1,8 Millionen Euro kosten lassen. „Die Arbeiten an der Vorburg und an der Ostfassade mit Kemenate werden bis zum Jahresende abgeschlossen sein“, sagte Burghauptmann Günter Schuchardt: „Dann sind wir rum.“ Pro Jahr besuchen etwa 450.000 Menschen die Burg, die die Unesco schon 1999 mit dem „Weltkulturerbe“-Gütesiegel geadelt hat. Aber in Wahrheit sind es noch viel mehr, denn gezählt werden nur diejenigen, die die historischen Räume besuchen, denn der Zutritt zu den Burghöfen ist gratis und steht jedem offen. So dürfte die tatsächliche Zahl der jährlichen Besucher die Millionengrenze weit überschreiten.