Der Hamburger SPD-Außenpolitiker Niels Annen über die Bedeutung der Unterstützung der Kurden im Kampf gegen den „Islamischen Staat“

Hamburg. Niels Annen wirkt ungewohnt ernst. Die Reise mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier in das zerrissene Bürgerkriegsland Irak hat den Hamburger SPD-Bundestagsabgeordneten sichtlich berührt. „Ich bin auch nur ein Mensch“, murmelt er bei einem Besuch beim Hamburger Abendblatt. Der Vormarsch der radikalislamischen Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien und im Irak hat für die Menschen dort die Tore der Hölle geöffnet. Angesichts von zahlreichen Massakern und Gräueltaten an Christen, Schiiten, Kurden und kurdischen Jesiden wird in Berlin darüber diskutiert, wie den Menschen zu helfen ist. Humanitäre Hilfe ist bereits angelaufen, aber die kurdische Peschmerga-Miliz – die einzige ernst zu nehmende militärische Widerstandsbastion im Irak – verlangt zudem moderne Waffen. Prinzipiell ist Niels Annen gegen Waffenlieferungen in Spannungsgebiete; aber die Lage im Irak ist verzweifelt und erfordert rasche Entscheidungen.

„Das Problem ist, dass die USA rund 7000 moderne gepanzerte Fahrzeuge an die irakische Armee geliefert hatte, die nun teilweise in den Händen der Kämpfer des Islamischen Staates (IS) sind“, sagt der Eimsbütteler Abgeordnete. „Die sind mit den Mitteln, über die die Perschmerga derzeit verfügen, nicht zu bekämpfen. Sie brauchen dafür panzerbrechende Waffen. Und es ist aus meiner Sicht einleuchtend, dass man sie ihnen liefern sollte.“ Die IS sei schließlich nur noch 40 Kilometer von der Kurdenmetropole Erbil entfernt. „Ich bin und bleibe sehr skeptisch, was Waffenlieferungen anbelangt; und das Problem ist nicht rein militärisch zu lösen. Aber die Lage ist derart dramatisch, dass wir nicht den Luxus haben, noch lange darüber zu diskutieren“, sagt der SPD-Politiker und gelernte Historiker.

Andererseits sieht Annen sehr klar das Problem; dass von Deutschland gelieferte Waffen später in einem innerkurdischen Machtkampf oder gar gegen den Nato-Partner Türkei eingesetzt werden könnten. „Dann wird man uns vorwerfen: Das sind doch eure Waffen!“ Doch auch wenn man den Kurden nicht helfe, setze man sich Vorwürfen aus. Ein klassisches Dilemma. Niels Annen hat die Peschmerga beobachtet und ist überzeugt davon, dass die Kurdenmiliz mit besseren Waffen durchaus eine Chance gegen die IS habe.

„Das sind hervorragende Soldaten; sie sind gut ausgebildet und haben Kampferfahrung über viele Jahre sammeln können. Wir vergessen manchmal, dass diese Region seit 30 Jahren im Krieg ist. Aber sie brauchen Hilfe.“ Man sei nun in einer Situation, in der man am Ende nicht alles richtig machen könne. Und es sei auch ein wenig ein Wendepunkt in der deutschen Außenpolitik.

Zwar hätten die begrenzten US-Luftschläge „das Momentum ein wenig verändert“. „Aber alle Peschmerga, mit denen wir gesprochen haben, sagten, die IS-Kämpfer seien extrem mobil und vollkommen rücksichtslos.“ Selbst gemessen an den Taliban und an al-Qaida sei die Brutalität der IS von einem bislang unbekannten Ausmaß. „Sie setzen Terror als systematisches Mittel ein; wenn die Menschen in den Dörfern hören, dass die IS auf dem Vormarsch ist, lassen sie alles stehen und liegen und fliehen. Das ist eine ähnliche Taktik wie beim Mongolenherrscher Dschingis Khan – schnelle Vorstöße und furchtbare Brutalität. Viele Dörfer konnten auf diese Weise kampflos eingenommen werden.“

Wenn man den syrischen Bürgerkrieg rechtzeitig gestoppt oder zumindest eingedämmt hätte, wäre das Problem IS gar nicht entstanden, meint Annen. „IS ist entstanden aus einem drei Jahre währenden Krieg innerhalb des syrischen Bürgerkrieges. IS ist ein Produkt eines Kampfes zwischen unterschiedlichen islamistischen Gruppierungen, die ganz unterschiedliche politische Konzepte verfolgt haben. Als sich IS-Kommandeur Abu Bakr al-Baghdadi zum Kalifen ausrief, hat er ganz bewusst darauf verzichtet, den Segen von Al-Qaida-Chef Ayman al-Sawahiri einzuholen.“ Die internationale Gemeinschaft habe den Fehler gemacht, die Position einzunehmen: Solange die sich untereinander bekriegen, ist das doch wunderbar. „Das Ergebnis war, dass sich die effektivste und brutalste Strategie durchgesetzt hat. Und dadurch, dass der jetzt zurückgetretene irakische Regierungschef Nuri al-Maliki, ein Schiit, die Sunniten systematisch ausgegrenzt hat, hat er die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die alten Anhänger Saddam Hussein gesagt haben: Lieber IS als al-Maliki.“

Weil die irakische Armee nicht für „den Schiiten in Bagdad“ kämpfen wollte, habe die IS das von den USA gelieferte hochmoderne Waffenmaterial in die Hände bekommen. Zudem sind ehemalige Generäle Saddams auf ihrer Seite. Es ist eine erfahrene, kampferprobte Truppe, die weiß, wie man diese Waffen bedient. Das ist ein Albtraumszenario.“ Die IS habe in Mossul die Depots von Banken erbeutet, sie verkaufe außerdem kostbare Antiquitäten für viel Geld auf dem Schwarzmarkt. „Es gibt ferner ein florierendes Entführungsbusiness, bei dem westliche Staaten viel Geld zahlen, um ihre Leute freizukaufen. Wir gehen davon aus, dass IS inzwischen ein Vermögen von mindestens einer Milliarde Dollar besitzt.“ Rund 300 deutsche Staatsbürger kämpften im Irak aufseiten der Terrormiliz, aus ganz Europa seien es Tausende. „Niemand kann mehr sagen, das geht uns nichts an.“

Vor allem die Gespräche mit den jesidischen und christlichen Flüchtlingen haben Annen tief berührt. Der Bischof von Mossul berichtete, dass es gerade die muslimischen Nachbarn waren, mit denen man lange friedlich zusammegelebt habe, die Christen und Jesiden vertrieben und ihre Häuser geplündert haben. „Viele haben ihren muslimischen Nachbarn ihre ganzen Ersparnisse anvertraut und sie gebeten: Passt bitte darauf auf.“ Doch diese Nachbarn hätten das Geld eingesteckt und die Häuser der Geflohenen übernommen. Der Bischof habe seine Residenz geöffnet, wo die Flüchtlinge nun im Park untergebracht seien – bei 47 Grad im Schatten. „Ich habe schon viel gesehen“, sagt Annen, „aber diese Situation hat mich sehr betroffen gemacht. Diese Menschen benötigen dringend humanitäre Hilfe.“ Mit der kurdischen Regionalregierung habe Steinmeier drüber gesprochen, wie langfristige Hilfe aussehen könnte. In den kurdischen Gebieten lebten ja bereits Hunderttausende syrische Bürgerkriegsflüchtlinge. „Die Kurden in der Autonomen Region haben in bewundernswerter Weise bislang jeden ungeachtet seiner Ethnie und Religionszugehörigkeit aufgenommen – aber irgendwann stoßen sie auch an ihre Grenzen.“

Die Lage werde dadurch noch kompliziert, dass die Kurden zersplittert seien in die Peschmerga von Masud Barsani, des Präsidenten der autonomen Region Kurdistan im Nordirak und Chef der Partei DPK sowie die Partei DYP sowie die als terroristische Organisation geltende marxistische Arbeiterpartei PKK. Diese Fraktionen haben sich blutige Kämpfe geliefert, scheinen aber im Angesicht der IS-Offensive notgedrungen zu kooperieren. Überhaupt erkennen die USA, der Iran, die Kurdenfraktionen plötzlich gemeinsame Interessen, sogar Saudi-Arabien hinterfrage seine bisherige Politik. Die USA würden allerdings bewusst militärisch nicht zu viel tun, um die Regierung in Bagdad nicht auf die Idee zu bringen, sie bräuchte selber nichts zu tun.

„Die Regierung von Präsident Obama achtet richtigerweise sehr darauf, dass ihre Luftschläge nicht als Schützenhilfe für al-Maliki gewertet wird. Sie dürfen keineswegs als ‚Luftwaffe der Schiiten‘ angesehen werden.“ Annen war bei den Gesprächen mit dem neuen irakischen Ministerpräsidenten Haidar al-Abadi dabei. „Wir müssen den Druck auf Bagdad aufrechterhalten“, sagt er. „Wenn die Politiker dort den Eindruck haben, sie seien nicht dazu gezwungen, eine Regierung zu bilden, die die Interessen aller Bevölkerungsgruppen berücksichtigt, dann tun die das nicht.“ Das Misstrauen zwischen den Ethnien im Irak sei gewaltig.

Und inzwischen werde bereits die Frage diskutiert, warum noch irgendjemand die Erlöse aus dem Öl mit der Zentrale in Bagdad teilen sollte, falls die Kurden einen eigenen Staat ausriefen. Die sunnitischen Gebiete seien praktisch ohne Ressourcen. Das sei auch der Grund, warum Saddam Hussein – ein Sunnit – ein derart drakonisches Regime über die Kurdengebiete ausgeübt habe.

Unverzichtbar für eine politische Lösung der Krise sei die Türkei; sagt Annen. „Und das wissen sie auch.“ Der SPD-Politiker hofft, dass nun in Ankara ein Umdenken einsetze und eine „selbstkritische Debatte über die Rolle der Türkei in den vergangenen drei Jahren“ geführt werde. Ohne den syrischen Bürgerkrieg sei dieses Dilemma eben gar nicht entstanden – und die türkische Regierung habe zumindest nicht unterbunden, dass islamistische Kämpfer über die Grenze kamen und zum Teil hinter der Grenze von den Türken versorgt wurden. „Das war niemals offizielle Regierungspolitik, aber jeder in Ankara wusste, dass es geschah, und es ist im Zuge der Islamisierung der türkischen Politik auch ein Teil der Außenpolitik gewesen, islamistische Gruppen zu unterstützen.“ Diese Hilfe wende sich jetzt gegen die Türkei selber.

Es gehe nun bei der deutschen Hilfe darum, zu verhindern, dass die Kurden unter der Doppelbelastung von Krieg und Flüchtlingsversorgung zusammenbrächen. Und auch, dass der irakische Staat jetzt zerfällt. „Wie der Irak dann in zehn Jahren aussieht – das weiß niemand“, sagt Niels Annen. „Wenn IS – was wir hoffen – zurückgedrängt sein wird, dann geht der eigentliche politische Prozess im Irak erst richtig los.“