Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht im Abendblatt über die Konflikte in der Ukraine und im Irak, den Aufbau Ost, die kalte Progression und die Landtagswahl in Thüringen.

Hamburg. Der Osten wird noch lange gefördert werden müssen, und trotz sprudelnder Steuereinnahmen sieht Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) keine Möglichkeiten für eine Entlastung der Bürger. Das sagte die Kanzlerin im Gespräch mit Journalisten der Funke-Mediengruppe, zu der auch das Abendblatt gehört. Angesichts der großen globalen Herausforderungen misst sie der Partnerschaft mit den USA überragende Bedeutung zu.

Hamburger Abendblatt: Frau Bundeskanzlerin, wie erklären Sie sich, dass die Deutschen in Ost und West immer noch sehr unterschiedlich über den Ukraine-Konflikt denken und Putin im Osten viel populärer ist als im Westen?
Angela Merkel: Ich habe vielmehr den Eindruck, dass die Meinungen der Deutschen in Ost und West über Russlands Rolle in diesem Konflikt sehr nahe beieinander sind. Wir alle wissen zudem, dass diese Krise nicht militärisch gelöst wird. Die Bundesregierung hat deshalb von Anfang an deutlich gemacht, dass eine politisch-diplomatische Lösung gefunden werden muss.

Was sagen Sie denen, die glauben, die Krim gehöre eben zu Russland?
Angela Merkel: Wir leben in Europa seit Jahrzehnten in Frieden. Das beruht in erheblichem Maße darauf, dass wir in Europa Grenzen nicht einfach mit Gewalt oder Annexion verändern. Jeder hat die territoriale Integrität des anderen zu respektieren. Das ist die Grundlage unseres friedlichen Zusammenlebens. Wir Ostdeutschen erinnern uns daran, dass wir – wie auch die Polen, die Ungarn oder die Balten – nach 1989 frei über unsere Zukunft entscheiden konnten. Wir haben die deutsche Einheit gewählt. Genau dieses Recht, frei über die Zukunft ihres Landes zu entscheiden, muss die Ukraine auch haben. Darum geht es in diesem Konflikt im Kern.

Putin heizt den Konflikt an, aber die Kiewer Regierung setzt ihre Bürger in Donezk einem Dauerbeschuss aus. Auch das kann doch nicht akzeptabel sein?
Angela Merkel: Akzeptabel kann nur sein, alles dafür zu tun, dass sowohl die territoriale Unversehrtheit der Ukraine gewahrt wird als auch jeder seinen Beitrag dazu leistet, mit Augenmaß vorzugehen und die Zivilbevölkerung zu schützen. Ich mache mich weiter für eine politische Lösung stark, denn nur die kann der Region dauerhaften Frieden bringen.

2019 läuft der Solidarpakt aus, obwohl die ostdeutschen Länder auch dann noch unterfinanziert sein werden. Woher soll die notwendige Finanzhilfe nach 2019 kommen? Muss es einen neu konstruierten Länderfinanzausgleich geben?
Angela Merkel: Darüber müssen Bund und Länder jetzt verhandeln. Mir ist dabei wichtig, dass auch nach 2019 jedes Bundesland eine faire Entwicklungschance hat und dass es für die ostdeutschen Länder keine finanziellen Brüche gibt.

Sind Sie dafür, mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer die Steuerzahler vom Solidaritätszuschlag zu befreien?
Angela Merkel: Ich kann mir nicht vorstellen, dass man von heute auf morgen auf diese Steuereinnahmen in Höhe von rund 15 Milliarden Euro verzichten und gleichzeitig den Osten weiter stark fördern kann.

Im Klartext: Den Solidaritätszuschlag wird es ewig geben!
Angela Merkel: Ewig ist in der Politik keine Kategorie, aber derzeit sehe ich nicht, dass er kurzfristig abgeschafft wird.

Deutschland liegt in der Mitte Europas und will nun mit einer Maut ausländische Autofahrer zur Kasse bitten. Befürchten Sie nicht jahrelange Rechtsstreitigkeiten mit unseren Nachbarn?
Angela Merkel: Die Bundesregierung hat von Anfang an gesagt, dass eine Maut inländische Autofahrer nicht zusätzlich belasten darf und selbstverständlich mit dem europäischen Recht vereinbar sein muss. Dazu führen wir intensive Gespräche in der Bundesregierung und mit der Europäischen Union, um eben solche Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden.

Angesichts der höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte wollen viele Unionspolitiker die Bürger mit mittlerem Einkommen von der kalten Progression befreien. Auch Ihr Vizekanzler Sigmar Gabriel hat diese Steuerentlastung für sich als Thema entdeckt, Sie aber gelten als Bremserin …
Angela Merkel: Die Bundesregierung will 2015 einen Haushalt ohne neue Schulden aufstellen. Wir haben 40 Jahre lang über unsere Verhältnisse gelebt. Diese Schuldenspirale zu durchbrechen ist das Beste, was wir für die nächsten Generationen tun können. Außerdem wollen wir die Kommunen finanziell entlasten und weiter viel Geld in die Verkehrsinfrastruktur sowie in Forschung und Bildung investieren. Dazu kommt – wir sprachen schon darüber – die finanzielle Unterstützung der neuen Bundesländer. All diese Ziele wollen wir auch erreichen. Deswegen komme ich mit meinen mathematischen Fähigkeiten zu dem Schluss, dass wir derzeit keinen Spielraum für Steuersenkungen haben.

Der neue Präsident der Türkei heißt Recep Tayyip Erdogan und viele befürchten, dass nun die Islamisierung des Landes vorangetrieben wird. Die CSU fordert jetzt, dass die EU einen Beitritt der Türkei ausschließen soll. Teilen Sie diese Auffassung?
Angela Merkel: Es ist seit langen Jahren bekannt, dass ich eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU nicht für den besten Weg halte. Die EU führt mit der Türkei seit geraumer Zeit ergebnisoffene Beitrittsverhandlungen, die selbstverständlich weitergeführt werden. Deutschland hat ein großes Interesse an einer erfolgreichen und stabilen Türkei. Das Land ist uns ein wichtiger Partner, schon wegen der Millionen von türkischstämmigen Menschen in Deutschland. In direkter Nachbarschaft der Türkei, in Syrien und Irak, toben schwere Konflikte. Es gibt also viele Gründe, sich um ein gutes Verhältnis zur Türkei zu bemühen. Das wird die Bundesregierung allerdings auch in Zukunft nicht daran hindern, wenn nötig Verstöße gegen Meinungsfreiheit oder Menschenrechte in der Türkei zu kritisieren.

Im Irak sind die Islamisten der Terrororganisation IS auf dem Vormarsch. Können Sie sich vorstellen, deutsche Waffen an die Kurden zu liefern, um den Vormarsch der Islamisten zu stoppen?
Angela Merkel: Es gibt keine Zweifel, dass die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) unsagbare Verbrechen und Grausamkeiten begeht und dass Hunderttausende von Menschen in großer Not auf der Flucht sind. Deutschland leistet seinen Beitrag, um sie zu unterstützen. Wir tun es jetzt schon mit Millionen von Euro für humanitäre Soforthilfe und wir sind bereit, weitere Maßnahmen zu ergreifen. In diesem Zusammenhang prüfen wir auch die Ausstattungshilfen für die Streitkräfte, die im Nordirak zum Schutz der Menschen im Einsatz sind. Dabei werden wir die Grundsätze unserer Rüstungsexportpolitik berücksichtigen und uns eng mit unseren Partnern abstimmen. In dieser Situation zeigt sich übrigens, was die Welt an den Vereinigten Staaten von Amerika hat. Ich halte den von Präsident Obama entschiedenen militärischen Einsatz gegen den IS für sehr wichtig, um die Terroristen zurückzudrängen. Das bestärkt meine Überzeugung, dass angesichts der großen globalen Herausforderungen die Partnerschaft mit den USA für uns trotz aller auch tiefgreifenden Meinungsunterschiede über die Aktivitäten der amerikanischen Nachrichtendiensten von überragender Bedeutung ist.

Viele fürchten auch Nachteile durch ein Freihandelsabkommen mit den USA.
Angela Merkel: Ein solches Freihandelsabkommen, wie es übrigens immer mehr Staaten der Welt miteinander abschließen, kann den Menschen in Deutschland und Europa große Vorteile bringen. Freier Handel mit einem so großen Markt wie den USA wird positive Auswirkungen auf die deutschen Exporte und unsere Industrie haben und Arbeitsplätze schaffen. Ich kann den Deutschen versichern, dass es weder Genmais noch Chlorhühnchen bei uns geben wird, auch der Mindestlohn ist nicht in Gefahr. Das Freihandelsabkommen bietet wesentlich mehr Chancen als Risiken, und die Risiken werden wir sehr genau im Auge haben.

Wie erklären Sie sich, dass 25 Jahre nach dem Sturz der SED-Diktatur ein Linker gute Chancen hat, in Thüringen Ministerpräsident zu werden?
Angela Merkel: Ich stelle erst einmal fest, wie gut Thüringen 25 Jahre nach der Friedlichen Revolution heute dasteht. Der Freistaat hat mit der CDU und ihren Ministerpräsidenten seit seiner Wiedergründung 1990 eine sehr gute Entwicklung genommen. Thüringen ist eines der erfolgreichsten neuen Bundesländer mit hohem Beschäftigungsstand und einem sehr guten Bildungssystem.

Trotzdem könnte die CDU am 14. September die Wahl verlieren.
Angela Merkel: Ich werbe dafür, dass genau das nicht passiert, denn damit würde man all die Erfolge aufs Spiel setzen.

Würde es das Koalitionsklima in Berlin belasten, wenn die SPD in Thüringen einen Politiker der Linken in die Erfurter Staatskanzlei brächte?
Angela Merkel: Bund und Land sind natürlich zwei verschiedene politische Ebenen, weshalb Koalitionsentscheidungen nach Landtagswahlen vor Ort gefällt werden und nicht in Berlin, aber für mich gibt es keinen Zweifel, dass ein Ministerpräsident der Linkspartei Thüringen nicht guttäte.

Inwiefern?
Angela Merkel: Die Positionen der Linkspartei bringen weder mehr Arbeitsplätze, noch führen sie zu mehr Stabilität oder einem guten Bildungssystem – im Gegenteil. Im Interesse der Thüringer setze ich mich im Wahlkampf dafür ein, dass eine starke CDU mit Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht ihre erfolgreiche Arbeit fortsetzen kann.

Nun behauptet ja die Linke von sich selbst, dass sie geläutert sei und sich von ihrer SED-Vergangenheit distanziert hat. Ist es da nicht möglich, dass es irgendwann in der Zukunft sogar Koalitionen der CDU mit der Linken gibt?
Angela Merkel: Das kann ich mir nicht vorstellen. Die politischen Inhalte, die die Linke bundesweit vertritt, wären mit denen der CDU nicht vereinbar. Wir wollen die Haushalte sanieren, das jahrzehntelange Schuldenmachen beenden, weiter erfolgreich Arbeitsplätze schaffen, europa- und außenpolitisch ein verlässlicher Partner sein. All das wäre mit den Positionen der Linkspartei nicht möglich.