Bundesregierung korrigiert binnen weniger Tage ihre Haltung. USA versuchen, eingeschlossene Jesiden zu retten

Berlin. Angela Merkel ist gerade zurück aus dem Urlaub an diesem Tag, der im Rückblick vielleicht als ein Markstein ihrer Außen- und Sicherheitspolitik gelten wird. Drei Wochen war die Kanzlerin in Südtirol in den Ferien, und als sie am Mittwochmorgen erstmals wieder ihr Kabinett zur wöchentlichen Sitzung in Berlin zusammenruft, geht es um nicht weniger als eine grundlegende Richtungsentscheidung ihrer Kanzlerschaft. Nach der Runde steht fest: Die Regierung will schon in Kürze Rüstungsgüter direkt an die irakischen Kurden liefern, die dem Wüten der Dschihadistengruppe Islamischer Staat (IS) im Norden des Landes ausgesetzt sind.

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) erklärt schon am Morgen, vor der Kabinettsrunde, im Frühstücksfernsehen die Grundrisse der deutschen Hilfspläne für die Kurden. Es gehe um Zelte, Schutzwesten, Helme und Fahrzeuge für die kurdischen Kämpfer – und ausdrücklich nicht um Waffenlieferungen. So jedenfalls der Stand am Mittwoch. Das muss klargestellt werden, denn in den vergangenen Tagen hat die schwarz-rote Koalition ein bemerkenswertes Hin und Her in Sachen Irak hingelegt, durchaus auch um Waffenlieferungen geht es dabei.

Noch am Montag erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert in der Regierungspressekonferenz, man werde „grundsätzlich keine Waffen in Kriegs- und Kampfgebiete“ liefern. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes sekundierte, Waffenlieferungen stünden derzeit nicht zur Debatte. Doch dieses kategorische Nein hielt nicht lange. Außenminister Frank-Walter Steinmeier stand zu diesem Zeitpunkt bereits unter anderem in Kontakt mit dem Präsidenten der Region Kurdistan-Irak, Masoud Barzani. Der SPD-Politiker erfuhr aus erster Hand von der nahezu ausweglosen Situation. Die Frage lautete, wie Deutschland Unterstützung anbieten könne. In Berlin registrierte man zudem, dass andere Länder aktiv wurden.

Frankreich hatte bereits am Sonntag erklärt, die Lieferung von Waffen an die Kurden zu prüfen. Die italienische Außenministerin forderte ihrerseits eine koordinierte Unterstützung der Kurden durch die Europäische Union (EU) und sprach explizit von militärischen Möglichkeiten. Großbritannien wiederum hatte schon am Wochenende per Royal Air Force Hilfsgüter in die Region gebracht. Als Nächstes war geplant, eine „kleine Anzahl“ Tornado-Jets für mögliche Überwachungseinsätze zu schicken. Außerdem wurde erwogen, wie man sich an der Ausstattung kurdischer Kämpfer beteiligen könne. Die Bundesregierung jedoch zögerte weiterhin.

Am Dienstag schließlich gab man sich einen Ruck. Den Auftakt machte Vizekanzler Sigmar Gabriel. Der SPD-Parteivorsitzende und Wirtschaftsminister schloss Waffenlieferungen nicht mehr aus. Nach einem Treffen mit Vertretern der Jesiden in Deutschland sagte er, rein rechtlich wäre Deutschland in der Lage, die irakische Armee mit Waffen zu versorgen. Er wolle nicht sagen, dass man nicht über Waffenlieferungen nachdenken dürfe, warnte aber vor voreiligen Entscheidungen. Gabriel, der sich zuletzt als starker Kritiker von Rüstungsexporten profiliert hatte, wollte damit sagen: Er steht zu seinen Prinzipien. Ausnahmen sind aber möglich.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die zuständigen Ministerien im engen Austausch. „Wir hier in Deutschland arbeiten in diesen Stunden mit Hochdruck daran, dass wir ein stimmiges Gesamtpaket innerhalb Europas schnüren können, und vor allem, wie der deutsche Beitrag aussehen kann“, erklärte am Mittag Verteidigungsministerin von der Leyen. Die CDU-Politikerin hatte sich zuvor mit ihrem britischen Amtskollegen Michael Fallon getroffen.

Nun wurde die Hilfe der Deutschen erstmals konkret: Von der Leyen sprach von ebenjenen nicht tödlichen Rüstungsprodukten, deren Lieferung nun in Aussicht gestellt wird. Auch sie schloss nur noch wenig aus: Wenn ein Völkermord drohe, müsse man sich erneut unterhalten. Abschließend erklärte Steinmeier, er sei angesichts der „dramatischen Lage dafür, bis an die Grenzen des politisch und rechtlich Machbaren zu gehen“.

Nach Merkels Kabinettsrunde versuchte Regierungssprecher Steffen Seibert schließlich, die holprige Entscheidungsfindung bis hin zu den geplanten Lieferungen zu erklären. Er spricht vom „Vormarsch blutrünstiger Extremisten“. Auf diese Entwicklungen müsse man nun reagieren und „Beurteilungsspielräume ausschöpfen“. „Deutschland hilft so, wie es kann. Nach seinen Kapazitäten und nach dem, was politisch-rechtlich machbar erscheint“, erläutert er.

Die USA haben unterdessen die Zahl ihrer Militärberater im Irak aufgestockt. Die rund 130 zusätzlichen Soldaten sollen helfen, 20.000 bis 30.000 Jesiden vor den islamistischen Rebellen in Sicherheit zu bringen. Die Angehörigen der religiösen Minderheit werden von den radikalen Islamisten mit dem Tode bedroht und harren seit Tagen auf dem Berg Sindschar aus. Bei Temperaturen über 40 Grad fehlen ihnen in der Ödnis Wasser und Lebensmittel. Die eingekesselten Flüchtlinge werden seit der vergangenen Woche aus der Luft versorgt. Viele der abgeworfenen Lebensmittel verfehlen aber ihr Ziel.

Seit dem Vormarsch des IS im Juni haben die USA etwa 700 Soldaten zum Schutz ihrer Diplomaten und zur Beratung des irakischen Militärs in den Staat entsandt. Seit einigen Tagen greifen sie zudem die Islamisten aus der Luft an.