Wirtschaftsflügel der Union will die Kanzlerin zum Abbau der kalten Progression zwingen. SPD springt den Rebellen bei

Berlin. Diese Debatte hatte die Kanzlerin vermeiden wollen: Für eine Steuerentlastung, stellte Angela Merkel vor dem Start in ihren Urlaub noch einmal klar, sei in der Finanzplanung für diese Wahlperiode leider kein Spielraum. Doch nur zwei Wochen später proben Parteifreunde den Aufstand: In der Union macht der Wirtschaftsflügel massiv Druck, die heimliche Steuererhöhung namens „kalte Progression“ abzubauen und die Bundesbürger um mehrere Milliarden Euro im Jahr zu entlasten.

Die SPD springt den Steuerrebellen mit einem überraschenden Angebot zur Seite, das Bewegung in die Debatte bringt: Eine Koalitionsarbeitsgruppe soll zügig prüfen, wie zur Finanzierung der Steuerentlastung Subventionen abgebaut werden können. Den Vorschlag unterbreitete am Donnerstag der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Johannes Kahrs. Der Hamburger Abgeordnete sagte dem Abendblatt: „Wenn uns der gemeinsame Wille eint, dann werden wir einen Weg finden, die kalte Progression zu senken.“

Der Wille ist groß in der Union, der Unmut über Merkels Verdikt auch. Der Wirtschaftsflügel möchte die Steuersenkung endlich wieder zu einem Erfolgsthema von CDU und CSU machen. Auf dem CDU-Bundesparteitag im Dezember will die Unions-Mittelstandsvereinigung (MIT) die Kanzlerin und auch CSU-Chef Horst Seehofer auf Kurs zwingen: Die Union soll sich zur Einführung einer Steuerbremse spätestens Anfang 2017 bekennen, künftig soll der Einkommenssteuertarif automatisch an die Inflation angepasst werden; alle künftigen Spielräume müssten dafür genutzt werden – auch durch Subventionsabbau, wie ihn die SPD jetzt ebenfalls vorschlägt, oder durch Privatisierungserlöse.

So steht es in dem MIT-Antrag. Deren Chef Carsten Linnemann schätzt die Chancen für den Vorstoß auf dem Konvent „50 zu 50“ ein. Aber er drängt: „Wir müssen Wort halten.“ Die Union habe sich in vielen Beschlüssen zur Beseitigung dieser Ungerechtigkeit bekannt. Denn der Ärger über die „kalte Progression“, bei welcher der Lohnzuwachs durch die Steuer plus Inflation komplett aufgefressen werden kann, ist nicht neu: Ursache sind die stark steigenden Steuertarife im unteren und mittleren Einkommensbereich – mit mehr Lohn rutscht man schnell in einen höheren Tarif. Problematisch wird es, wenn dann noch das allgemeine Preisniveau steigt.

„Wer eine Einkommensverbesserung erhält, die nur die Inflation ausgleicht, muss am Ende trotzdem mehr Steuern bezahlen. Das ist nicht gerecht. Die kalte Progression muss in dieser Wahlperiode abgeschafft werden“, sagt der Präsident des Bunds der Steuerzahler, Reiner Holznagel, dem Abendblatt. Wie hoch die Bürger durch den Effekt belastet werden, ist unter Experten umstritten: Der CSU-Wirtschaftspolitiker Hans Michelbach rechnet vor, ohne eine Korrektur werde der Staat von Bürgern und Unternehmen zwischen 2014 und 2017 über 50 Milliarden Euro extra kassieren; andere Experten halten schon die Hälfte der Summe für üppig kalkuliert. Union und FDP hatten die kalte Progression in der letzten Wahlperiode um vier Milliarden Euro jährlich dämpfen wollen, waren aber am rot-grünen Widerstand im Bundesrat gescheitert.

Weil die SPD auch in den Koalitionsverhandlungen zur Kompensation eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes verlangte, klammerte Schwarz-Rot das Thema einfach aus. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) ist das ganz recht, so kann er sich auf die Schwarze Null im Haushalt konzentrieren. Doch Unionspolitiker warnen, es gehe jetzt auch um die Glaubwürdigkeit der Union: Wer im Wahlkampf versprochen habe, keine Steuererhöhungen zuzulassen, müsse auch heimliche Steuererhöhungen stoppen, sagt CSU-Mann Michelbach. MIT-Chef Linnemann warnt: Wenn die Politik nicht bald reagiere, werde die große Mehrheit der Bürger in den Spitzensteuersatz rutschen. Anfangs hatte die Koalition das Thema eher vermieden. Doch SPD-Chef Sigmar Gabriel hat die Bedingung, für die Dämpfung der kalten Progression müssten anderswo Steuern erhöht werden, schon im Europawahlkampf geräumt, auch unter dem Druck der Gewerkschaften. Seitdem bekennt sich die SPD-Spitze zur Entlastung, drängt aber, der Finanzminister solle einen Vorschlag machen. Schäuble denkt aber nicht daran. Die Unionsspitze traut den Sozialdemokraten nicht. Sie fürchtet, die SPD wolle doch Steuererhöhungen durchsetzen. Doch das neue Angebot der SPD, das Haushaltsexperte Kahrs am Donnerstag unterbreitete, könnte ein Ausweg sein: „Die Dämpfung der kalten Progression muss kommen, aber wenn wir die schwarze Null im Haushalt nicht gefährden wollen, muss sie gegenfinanziert werden.“ Da die Union Steuererhöhungen ablehne, müsse man sich auf Subventionsabbau, den Kampf gegen Steuerflucht und das Schließen von Steuerschlupflöchern konzentrieren. Eine Arbeitsgruppe aus Haushalts- und Finanzexperten solle schnell an die Arbeit gehen.

Allerdings müssten die Länder mitmachen, weil es auch um ihre Steuereinnahmen gehe. Sie haben aber teils andere Pläne. Die SPD-Länderfinanzminister prüfen ein Modell, bei dem die kalte Progression erst 2019 um etwa vier bis fünf Milliarden Euro gedämpft würde – wenn die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag erhalten blieben.