Mittlerweile zieht es die Hälfte eines Schülerjahrgangs an die Universitäten. Die Professoren fühlen sich von der Politik im Stich gelassen

Berlin. Noch ist ein Studium die beste Jobgarantie. Unter Akademikern herrscht quasi Vollbeschäftigung. Noch. Aber wie wird die Arbeitslosenquote aussehen, wenn die Zahl der frischen Hochschulabsolventen die der ausgelernten Facharbeiter, Arbeiter und Angestellten einmal um Längen übersteigt?

Dass es so kommt, ist indes wahrscheinlich. Denn die Zahl der Studenten wird nach neuen Prognosen der Kultusministerkonferenz nicht wie erwartet zurückgehen. Die demografische Entwicklung lässt sich offenbar nicht auf die Hochschullandschaft übertragen. Zwar gibt es immer weniger Schüler, doch von den wenigen wollen immer mehr studieren. Derzeit entscheiden sich annähernd 50 Prozent eines Jahrgangs für ein Studium. Die Hochschulen schlagen deshalb Alarm. Sie fühlen sich von der Politik im Stich gelassen.

Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) sieht den Kollaps ihrer Einrichtungen am Horizont aufscheinen und droht mit Konsequenzen. „Wenn nicht bald etwas von politischer Seite passiert und wir keine bessere nachhaltige Finanzierung erhalten, werden wir die hohe Zahl an Erstsemestern reduzieren müssen. Das geht dann nur mit mehr Numerus-clausus-Fächern und strengeren Notenvorgaben“, sagt HRK-Präsident Horst Hippler. Gleichzeitig muss die Wirtschaft fürchten, dass sich der Mangel an beruflich Qualifizierten verschärft. Wenn von der abnehmenden Zahl junger Bürger immer mehr oder auch nur eine gleichbleibend hohe Zahl studieren wollen, wird die Zahl der Auszubildenden automatisch sinken.

Über Jahrzehnte gab es in der Summe immer mehr Auszubildende als Studenten. Der deutschen Wirtschaft schien es nicht geschadet zu haben. Seit 2011 ist das anders. Heute geht man von rund zwei Millionen Azubis aus – Tendenz sinkend. Studenten gibt es etwa 2,6 Millionen – Tendenz steigend. Gerade hat die Kultusministerkonferenz eine neue Vorausberechnung der Studienanfängerzahlen für den Zeitraum bis 2025 erstellt. Bisher nahm sie an, dass der aktuelle Stand von knapp über 500.000 Studenten bis 2020 auf rund 450.000 zurückgehen werde. Das schien eine beherrschbare Menge.

Doch nun wird, ausgehend von 507.124 Studienanfängern im Jahr 2013, bis zum Jahr 2019 weiterhin mit um die 500.000 Neulingen gerechnet. Erst danach sei ein allmählicher Rückgang auf 465.000 Studienanfänger im Jahr 2025 zu erwarten, heißt es in der KMK. Wenn sich die Minister da mal nicht irren. Erstens gibt es immer mehr Abiturienten. Die Zahl der Gymnasiasten stieg in den vergangenen zehn Jahren um rund vier Prozent auf jetzt 35 Prozent eines Jahrgangs an – bei allgemein zurückgehender Schülerzahl. Zweitens kann das Abitur auch an immer mehr Gemeinschaftsschulen und Sekundarschulen erworben werden. Es sind diese Schulen, die neben dem Gymnasium einen Boom erleben.

Drittens haben Bund und Länder großzügige Bedingungen für jene geschaffen, die ohne Abitur studieren wollen. Ein Berufsabschluss öffnet heute schon vielen fast alle Tore. Noch ist diese Gruppe eine Minderheit an den Hochschulen. Doch wird um diese Klientel stark geworben. Viertens kommen immer mehr ausländische Studenten nach Deutschland.

Wie schlecht die Studierneigung einer Generation realistisch gemessen werden kann, stellen die Voraussagen der KMK der letzten zehn Jahre eindrucksvoll unter Beweis. Die Minister sahen sich stets in den Absichten der jungen Leute getäuscht. Verlässlich mussten sie ihre Prognosen alle zwei Jahre nach oben korrigieren. Doch eine solche Korrektur ist nicht nur eine Frage einer Statistik mit Wahrheitsanspruch.

Die Prognosen über die Zahl der Studierenden lagen immer daneben

Auf solchen Berechnungen basiert die Finanzierung der Hochschulen durch Bund und Länder. Kurzum: Weil die Prognosen zum Zeitpunkt, als über deren Grundfinanzierung oder zusätzliche Mittel wie die Hochschulpakte entschieden wurde, immer danebenlagen, ist die Finanzausstattung der Hochschulen dem tatsächlichen Bedarf nicht angemessen.

„Um dramatische Konsequenzen für die studierwilligen jungen Menschen und einen Kollaps der Hochschulen zu verhindern, müssen Länder und Bund endlich ihre Kompetenzstreitigkeiten beenden und zusammenarbeiten“, sagt Hippler. Hintergrund einer Kritik ist, dass die Große Koalition zwar im Koalitionsvertrag sechs Milliarden Euro für Schulen, Kitas und Hochschulen versprochen hat und zudem den Einstieg des Bundes in die Grundfinanzierung der Hochschulen angekündigt hat, sich aber nach mehr als einem halben Jahr Regierungshandeln davon nichts konkretisiert, geschweige denn realisiert findet. Vielmehr streiten SPD und Union, Bund und Länder immer noch grundsätzlich darüber, welcher Bereich wie viel des großen Batzens bekommen soll. Doch selbst nach einer Einigung, wie und an wen das Geld gehen soll, ist die Gretchenfrage der Bildungspolitik noch nicht beantwortet: „Wie hältst du es mit dem Grundgesetz?“

Der Bund kann sich nur an der Grundfinanzierung der Hochschulen beteiligen, wenn die Verfassung geändert wird. Bei den Schulen ist es genauso. Kommt diese Änderung nicht, bleiben die Pläne zur nachhaltigen Finanzierung der Bildungslandschaft, an denen im Bildungsministerium längst gearbeitet wird, Schubladenhüter. Dann muss sich die Regierung nach vertrautem Muster in Projekte flüchten, die dann ein paar Jahre laufen. Für die Hochschulen ein Graus. „Wir brauchen die Grundgesetzänderung. Und zwar schnell, weil 2015 der Hochschulpakt II ausläuft“, sagt Hippler. Mit den beiden Hochschulpakten, die jeweils fünf Jahre liefen, haben Bund und Länder seit 2005 rund 140.000 neue Studienplätze geschaffen. Damals gab es 360.000 Studenten. „Wenn nichts passiert, dann werden wir die Zahl der Studienplätze wieder auf den Wert von 2005 zurückführen müssen“, droht Hippler. Für eine Wissensgesellschaft, die auf viele akademisch Gebildete angewiesen sei, ein Drama.