Der Zusammenhalt im Lande wächst – in Skandinavien aber ist er noch deutlich enger. Überraschenderweise liegt der vermeintlich kühle Norden vorn: Hamburg nimmt im Gesamtindex eine Spitzenstellung ein.

Berlin. Vom wachsenden Konkurrenzdruck im Berufsleben über zerbröselnde Familienbande bis hin zu Rasern und Dränglern auf der Autobahn: Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland ist es längst nicht mehr so gut bestellt wie vor 25 Jahren – so scheint es. Stimmt aber alles nicht, sagt jetzt die Bertelsmann Stiftung: Die Deutschen halten heute besser zusammen als noch zu Beginn der 90er-Jahre. Der Gemeinsinn in Deutschland ist in den letzten zwei Jahrzehnten sogar gewachsen. Und überraschenderweise liegt der vermeintlich kühle Norden vorn: Hamburg nimmt im Gesamtindex eine Spitzenstellung ein.

Neben den Stadtstaaten schneiden auch Baden-Württemberg, Bayern und das Saarland überdurchschnittlich gut ab. Schwerer tun sich den Forschern zufolge die ostdeutschen Länder. Zwar sei auch dort der Gemeinsinn stärker ausgeprägt als direkt nach der Wende, allerdings sei der Abstand zu den westlichen Bundesländern 25 Jahre nach dem Mauerfall größer denn je.

Verbessert hat sich die Akzeptanz von Homosexuellen. Auch die Furcht vor Kriminalität ist gesunken. Zuwanderern begegneten viele Deutsche hingegen nach wie vor mit großer Skepsis. Die Bereitschaft, Einwanderer die Sitten und Gebräuche ihrer Herkunftsländer pflegen zu lassen, habe über die Zeit sogar nachgelassen.

Dabei halten gerade die Menschen in den Ländern mit dem höchsten Ausländeranteil am engsten zusammen. „Offenbar empfinden noch immer viele Deutsche Zuwanderung als Bedrohung“, sagte die stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung, Liz Mohn. „Wir sollten stattdessen Vielfalt als Chance begreifen.“

Das „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ untersucht die sozialen Beziehungen zu anderen Menschen, die emotionale Verbundenheit mit dem Gemeinwesen und die Orientierung am Gemeinwohl anhand von 31 Indikatoren, die in neuen Dimensionen zusammengeführt werden. In sieben Dimensionen belegen die ostdeutschen Länder die hinteren Plätze.

Dies bedeute allerdings nicht, dass die Gesellschaft dort immer weiter auseinanderdrifte, so die Studie. Vielmehr habe sich auch im Osten der Zusammenhalt seit der Wiedervereinigung positiv entwickelt, aber eben langsamer als im Westen. Die Autoren der Studie, ein Forscherteam aus Sozialwissenschaftlern der Jacobs University Bremen, stellen in Ostdeutschland Parallelen zu anderen ehemals sozialistischen Staaten fest. So sei das relativ geringe Vertrauen der Ostdeutschen in ihre Mitmenschen typisch für Länder, in denen zuvor eher Kontrolle das gesellschaftliche Klima bestimmt habe. Das Vertrauen in Institutionen wie Justiz und Polizei hat sich im Osten während der vergangenen zehn Jahre verbessert.

Die Forscher analysierten auch, welche Einflussgrößen entscheidend für den Grad des Zusammenhalts in einer Gesellschaft sind. Auch damit lässt sich der Rückstand des Ostens erklären. „Je höher das Bruttoinlandsprodukt, je niedriger das Armutsrisiko, je urbaner das Wohnumfeld, je jünger die Bevölkerung, desto höher der Zusammenhalt“, fasst Kai Unzicker, Experte für gesellschaftliche Entwicklung in der Bertelsmann Stiftung zusammen. Generell verbessert eine ausgeglichene Einkommensverteilung den Zusammenhalt von Gesellschaften.

Die Forscher konstatieren in den ostdeutschen Bundesländern eine hohe Unzufriedenheit mit dem eigenen Lebensstandard. Es gebe aber auch „spezifische Stärken“, zum Beispiel eine hohe Akzeptanz von Normen und überwiegend auch eine starke regionale Identifikation.

Als Schwachpunkt in den Stadtstaaten, die insgesamt einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt aufweisen, machen die Forscher die geringe Anerkennung sozialer Regeln des Zusammenlebens aus. Sie erklären sich dies mit der Anonymität der Großstädte, während es auf dem Land eine stärkere soziale Kontrolle gebe.

Im Juli 2013 hatte die Gütersloher Stiftung bereits einen internationalen Vergleich des gesellschaftlichen Zusammenhalts vorgelegt. Deutschland landete dabei unter 34 Staaten nur im oberen Mittelfeld, mit deutlichen Schwächen bei der Akzeptanz von Vielfalt. Besonders gut schneiden die Deutschen bei der Anerkennung sozialer Regeln ab, während die Identifikation mit dem eigenen Land eher gering ausfällt.

Einen besonders starken Zusammenhalt weisen die skandinavischen Staaten auf. Auf dem ersten Rang landete Dänemark, gefolgt von Norwegen, Finnland und Schweden. Hinter den klassischen Wohlfahrtsstaaten kommen klassische Einwanderungsländer angelsächsischer Prägung. Sowohl Neuseeland als auch Australien, Kanada und die USA liegen in der Rangliste vor Deutschland.

Deutlich schlechter ist es um den Gemeinsinn in Südosteuropa bestellt: In Rumänien, Griechenland und Bulgarien driften die Bevölkerungsgruppen zusehends auseinander.