Nicht die Autobahnen sind das Hauptproblem: Viel schlimmer steht es um Straßen der Länder und Kommunen. Ein Report über marode Wege und hartnäckigen Betonkrebs

Berlin. Der Begriff „Schlaglochpiste“ ist eine Verharmlosung. Weil Schlaglöcher zunächst harmlos sind. Die kann man rasch und für recht wenig Geld wieder verschließen. Weit größer ist die Bedrohung, die sich hinter dem Wort „Materialermüdung“ verbirgt. Dieses Wort spielt eine große Rolle in einem Gutachten über den Zustand der Rader Hochbrücke, auf der die Autobahn 7 in Schleswig-Holstein den Nord-Ostsee-Kanal überquert. Wegen Materialermüdung dürfte diese Brücke, das hat unlängst der schleswig-holsteinische Verkehrsminister Reinhard Meyer (SPD) bestätigt, nur noch zwölf Jahre lang den Auto- und Lastwagenverkehr tragen. Danach müsste sie abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden. Kosten: mindestens 200 Millionen Euro. Dabei ist die Rader Hochbrücke erst im vergangenen Jahr repariert worden. Eine Schlaglochpiste ist sie nicht. Aber Materialermüdung steckt auch dort, wo Sanierungsarbeiten nicht hingelangen.

Materialermüdung gibt es an vielen Orten. Unter anderem in 15 Prozent aller Brücken in deutschen Kommunen. Das sind keine Autobahnbrücken, sondern Überquerungen eines kleinen Bachs oder Fußgängerunterführungen vor Schulzentren. Wie 2013 eine umfangreiche Untersuchung des Deutschen Instituts für Urbanistik ergab, ist in jenen 15 Prozent der insgesamt rund 67.000 kommunalen Straßenbrücken, also in mehr als 10.000 Brücken, die Materialermüdung so weit fortgeschritten, dass eine Sanierung zwecklos und ein kompletter Neubau erforderlich ist. Und weitere 35 Prozent dieser Brücken müssen dringend saniert werden.

Vergleicht man diese Sorgen deutscher Bürgermeister mit den Problemen des Bundesverkehrsministers, so muss man Alexander Dobrindt (CSU) eine herrliche Lage attestieren. Denn von den Brücken an Bundesfernstraßen, für die Dobrindt zuständig ist, befanden sich bei der letzten Erhebung „nur“ 11,8 Prozent in einem „nicht ausreichenden“ und 1,7 in einem „ungenügenden“ Bauwerkszustand. Das aber zeigt: Wer die tatsächliche Lage der deutschen Straßenverkehrsinfrastruktur erkennen will, darf nicht nur auf die großen, überregionalen Bundesfernstraßen schauen. Dort ist die Lage zwar auch nicht rosig. Aber um die Autobahnen ist es noch am besten bestellt.

Von den knapp 13.000 Autobahnkilometern in Deutschland befinden sich nach Angaben des Bundesverkehrsministeriums 8,5 Prozent in einem schlechten und acht Prozent in einem sehr schlechten Zustand. Doch schon auf der Stufe darunter, bei den Bundesstraßen (insgesamt 39.500 Kilometer), sind bereits 15 Prozent in schlechtem und weitere 19,6 Prozent in sehr schlechtem Zustand.

Steigt man abermals eine Stufe weiter nach unten, wo es um die 86.000 Kilometer Landes- und Staatsstraßen in der Zuständigkeit der Bundesländer und Freistaaten geht, sieht es noch düsterer aus. Eine Umfrage bei allen 16 Landesverkehrsministerien ergab, dass die Lage des regionalen Straßennetzes dramatisch ist. Zwar wenden die einzelnen Länder bei der Kategorisierung des jeweiligen Straßenzustands kein einheitliches Kriteriensystem an – manche haben ein vierstufiges Notensystem von „sehr gut“ bis „sehr schlecht“, andere teilen die Straßen in sechs Notenklassen ein –, und auch das Jahr der einzelnen Erhebungen ist nicht überall dasselbe. Dies aber beeinträchtigt nicht den Befund, dass es um die Straßen der Bundesländer katastrophal bestellt ist.

So gerieten in Baden-Württemberg nach der Erhebung des Jahres 2012 gut 20 Prozent der Landesstraßen in die Kategorie „schlecht“, weitere 27,8 Prozent in die Kategorie „sehr schlecht“. In Bayern sind auf 36 Prozent der Staatsstraßen „Maßnahmen erforderlich“, während in Hessen bei jeder zweiten Landesstraße „Handlungsbedarf“ besteht. Niedersachsen meldet einen „schlechten“ Zustand auf 22 Prozent, Nordrhein-Westfalen einen „schlechten“ und „sehr schlechten“ Zustand auf 45 Prozent der Landesstraßen. „Sanierungsbedürftig“ sind in Rheinland-Pfalz 28,6 Prozent der entsprechenden Strecken, ein Drittel ist es im Saarland.

Auf dieser Ebene der Landes- und Staatsstraßen sieht es im Osten der Republik übrigens nicht viel besser aus. Schlechter als „mittelmäßig“ ist der Zustand von 26 Prozent brandenburgischer Landesstraßen, Sachsen benotet mehr als 60 Prozent als nicht „ausreichend“. Sachsen-Anhalt nennt gar 63 Prozent „schlecht“ und „sehr schlecht“. Thüringen hat es besser und vergibt diese beiden Noten nur für 37 Prozent der Landesstraßen.

Allerdings ist das Bundesfernstraßennetz im Osten Deutschlands generell besser, da die Strecken und Brückenbauten erst nach der Wiedervereinigung errichtet oder komplett saniert wurden. Ganz sorglos aber schaut man etwa in Sachsen-Anhalt auch nicht auf die Autobahnen. Dort wird derzeit damit begonnen, auf 220 von 956 Kilometern Richtungsfahrbahnen der Autobahnen 9, 14 und 38 den sogenannten Betonkrebs zu beseitigen.

Zu diesem Zersetzungsprozess kommt es, wenn die Kieselsäure in dem für Beton genutzten Kies oder Splitt mit Alkalien reagiert, die mit Tausalzen in den Beton eindringen. Kommt dann Regenwasser hinzu, bildet sich ein Gel, das den Beton im Laufe der Jahre aufsprengt. Bis 2023 werden die Reparaturarbeiten dauern, und die kommen möglicherweise auch auf sächsische Autobahnen zu, wo Betonkrebs-Prüfungen gerade angelaufen sind.

Bei den Autobahnen eher geringe Probleme gibt es in den Stadtstaaten, wo viele erforderliche Sanierungen derzeit zumindest begonnen haben. Doch von den innerörtlichen Hauptverkehrsstraßen in eigener Zuständigkeit sind in Bremen 21 Prozent sanierungsbedürftig, in Hamburg gar rund 30 Prozent.

Berlin indes vermag als einziges Bundesland keine Angaben zu machen. Die Pressestelle der zuständigen Senatsverwaltung für Umwelt und Stadtentwicklung sah sich nicht in der Lage, irgendetwas über den Zustand der Straßen in der Hauptstadt mitzuteilen. Wer hierin einen Beleg für den Berliner Provinzialismus sieht, liegt insofern nicht ganz falsch, als das Fehlen von Angaben generell ein Zeichen der Provinz ist, nämlich der untersten Ebene, wo es um die Kreis-, Stadt- und Gemeindestraßen geht. Anders als in Berlin hat das Datendefizit auf dieser Ebene aber seinen Grund nicht darin, dass deutsche Städte und Gemeinden nichts über ihre Straßen sagen könnten oder wollten. Sondern darin, dass sie nicht gefragt wurden: Eine Umfrage bei allen Kommunen und Landkreisen sowie den Bezirken der Stadtstaaten zu ihrem Straßennetz mit einem Gesamtumfang von 541.000 Kilometern ist nicht zu leisten.

Geleistet hingegen wurde bereits eine Berechnung des Finanzbedarfs, der sich aus dem schlechten Straßenzustand ergibt. Erstellt hat diese Berechnung die von Bund und Ländern eingesetzte Kommission „Zukunft der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“. Diese nach ihrem Vorsitzenden auch Daehre-Kommission genannte Arbeitsgruppe – Karl-Heinz Daehre war von 2002 bis 2011 Landesverkehrsminister in Sachsen-Anhalt – beschrieb in ihrem Bericht vom Dezember 2012 das gesamte überörtliche Straßennetz aus Bundesfern-, Landes- und Kreisstraßen (insgesamt 230.000 Kilometer) und ermittelte den jährlichen Finanzbedarf, der bloß für Betrieb und Erhaltung des Vorhandenden besteht.

Insgesamt 7,3 Milliarden Euro müssten hierfür laut Kommission jährlich ausgegeben werden. Aber so viel geben die öffentlichen Haushalte nicht her. Deshalb ergibt sich eine jährliche Finanzlücke von 1,55 Milliarden.

Hinzu kommt laut Kommission die Deckungslücke bei den kommunalen Straßen. Da fehlt für Erhalt und Betrieb jährlich fast eine Milliarde. Insgesamt rund 2,5 Milliarden Euro mehr bräuchten die deutschen Verkehrshaushalte allein schon dann, wenn nur gesichert wird, was da ist – und kein einziger Kilometer neu gebaut wird. All dies belastet nicht nur die öffentlichen Haushalte, sondern auch die deutschen Unternehmen. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) veröffentlichte im Februar 2014 die Ergebnisse einer Befragung von hiesigen Firmen, von denen fast ein Viertel von „deutlichen Beeinträchtigungen“ der Betriebsabläufe durch Straßen- und Brückenschäden berichtete.

Wie so etwas konkret aussieht, wird beim Walzwerke-Hersteller Simag mit Sitz im Siegerland in Nordrhein-Westfalen sinnfällig. Seit Jahren beklagt diese international tätige Firma, dass ihre Schwerlasttransporte mit großen Anlageteilen immer komplizierter werden. Denn viele Brücken der umliegenden Autobahnen, zumal der Sauerlandlinie A 45, seien mittlerweile so marode, dass sie die Schwertransporter nicht mehr aushalten. Dauerte es früher nur einen Tag und eine Nacht, bis das Gefährt den nächsten Hafen erreichte, so sind mittlerweile, wegen immer längerer Ausweichrouten, drei bis vier Tage für die aufwendigen und teuren Transporte zu veranschlagen. Vor diesem Hintergrund muss es als gute Nachricht gelten, dass alle anderen Verkehrsteilnehmer auf der Sauerlandlinie in Südwestfalen vom kommenden Jahr an sehr oft im Stau stehen dürften. Denn dann beginnt aller Voraussicht nach die Sanierung von zwei der am schlimmsten betroffenen Brücken auf der A 45, der Talbrücken Brunsbecke und Rinsdorf.

Was ohne solche Arbeiten ansteht, können Autofahrer in Ostwestfalen lernen. Weil die Weserbrücke der B 241 in Beverungen so marode ist, dass sie keinen gleichzeitigen Schwerlastverkehr in beiden Richtungen mehr trägt, darf sie seit März nur noch in jeweils einer Richtung befahren werden. Mit den entsprechenden Wartezeiten.