Kanzlerin mahnt ihre CDU, sich lieber auf Wahlkampf zu konzentrieren. „Agenda 2020“ wird im Vorstand nicht diskutiert

Berlin. Diesmal war die Parteispitze rechtzeitig informiert. Denn Peter Tauber, seit der Regierungsbildung Generalsekretär der CDU, steht noch auf der Mailingliste der „CDU2017“, dem Bündnis junger Christdemokraten, die für eine Neuaufstellung der Partei als Reformkraft werben. Den ersten Aufruf der in den Medien „Rebellen“ getauften jungen Christdemokraten im Dezember hatte Tauber noch unterzeichnet. Jetzt nahm er nur noch zur Kenntnis, dass die CDU der nächsten Generation am Wochenende in einem Manifest eine „Agenda 2020“ forderte, die über die Wohltaten der Großen Koalition hinausgeht. Quasi eine Weiterentwicklung der einst von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) verfassten Sozialreformen „Agenda 2010“. In dem Unionspapier heißt es auch, die geplante Rente mit 63 sei das „völlig falsche Signal“. Im Gegenteil sollten alle, die länger arbeiten können und wollen, dies ohne bürokratische Hürden und zusätzliche Kosten mit ihrem Arbeitgeber vereinbaren können. Ziel sei eine „Flexi-Rente“, die den Bedürfnissen des Einzelnen gerechter werde.

Dies habe in den Sitzungen von Präsidium und Vorstand am Montagmorgen „nur am Rande eine Rolle gespielt“ erklärte Tauber erst auf Nachfrage. Vorher hatte er davon berichtet, es seien nur noch 27 Tage bis zur Europawahl, und mit der SPD müsse man Mitleid ob ihres Spitzenkandidaten Martin Schulz haben, außerdem habe man einen „kommunalen Wahlaufruf“ mit fünf Kernpunkten beschlossen und die Äußerung eines linken Abgeordneten zu den Ereignisse in der Ukraine seien „unsäglich“. Die innerparteiliche Debatte, ob die CDU nicht doch mehr Reform wagen müsste, wollte Tauber partout nicht führen.

Damit vertrat der General die Position der Chefin. Die Kanzlerin und Parteivorsitzende Angela Merkel hatte nämlich vorher hinter verschlossenen Türen deutlich gemacht, was sie von dem Anstoß zur inhaltlichen Diskussion hielt: nichts. Oder besser: jetzt nichts. Merkel hatte nach übereinstimmenden Teilnehmerangaben im Präsidium gesagt, Engagement sei schön und gut, gerade gehe es aber darum die Europawahlen zu gewinnen. Über Ausrichtung und Struktur könne man anschließend reden. In der anschließenden, deutlich größeren Vorstandssitzung habe sie das Gleiche nur noch angedeutet. Dennoch: Das war ein ziemlich deutliches Abwatschen der jungen Reformer, die sich um den außenpolitischen Sprecher der Fraktion, Philipp Mißfelder, und den gesundheitspolitischen Sprecher Jens Spahn organisieren.

Also keine Debatte über die mittel- und langfristigen Ziele. Dabei wäre die Gelegenheit günstig und mit einem konkreten Ziel führbar gewesen. Denn am Wochenende war die kalte Progression zum Thema geworden. Diese automatische Steuererhöhung quält viele Arbeitnehmer und ist Liberalen und Konservativen seit Jahren ein Dorn im Auge.

Im Umfeld der Kanzlerin wittert man eine Arglist der SPD

Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hatte sich aber schon in den vier schwarz-gelben Regierungsjahren standhaft geweigert, einen konkreten Vorschlag zu ihrer Abschaffung vorzulegen. Umso mehr überraschte eine Interviewäußerung Schäubles, die am Wochenende vorab verbreitet worden war: „Sobald im Haushalt Spielräume entstehen und es einen gemeinsamen Willen der Koalitionspartner gibt, das Thema kalte Progression anzugehen, bin ich der Letzte, der sich dem Vorhaben verschließt“, sagte der Finanzminister dem „Spiegel“. Einige Christdemokraten wollten die Gelegenheit beim Schopfe packen: „Wir stehen beim Abbau der kalten Progression im Wort. Alle sich ergebenden Spielräume müssen genutzt werden“, sagte Mike Mohring, der Koordinator der Unionsfraktionsvorsitzenden in den Ländern. Vorstandsmitglied Christian Baldauf aus Rheinland-Pfalz präsentierte sogar ein fertiges Modell, dass er gemeinsam mit andern Vorständlern erarbeitet hat: „Die kalte Progression könnte in zwei Stufen zum 1. Januar 2016 und zum 1. Januar 2018 abgebaut werden.“ Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion, Michael Fuchs, brachte Vorschläge zur Gegenfinanzierung ins Spiel: Die Eingliederungsprogramme für Arbeitslose könnten gekürzt werden und die Beihilfen für die Entwicklung von Elektroautos, die an die Autoindustrie gehen.

Die Debatte nahm Fahrt auf – bis Montagmorgen. Da zog der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder (CDU) schon wieder die Bremse. „Jetzt im Haushalt 2014 steht es überhaupt nicht zur Diskussion“, sagte er im Frühstücksfernsehen. Zwar könnten Spielräume für Steuersenkungen genutzt werden, aber „das könnte 2015, 2016 sein“. Doch der Fraktionsvorsitzende schränkte auch dies sofort ein: Der Bund werde „auf keinen Fall“ die Steuerausfälle der Länder erstatten, die bei einer Abschaffung der kalten Progression anfielen. Da zahlreiche Länderhaushalte aber viel größere Schwierigkeiten als der Bund haben, die Schuldengrenze einzuhalten, macht Kauder mit dieser Festlegung das ganze Vorhaben fast unmöglich.

Kauder spricht, anders als Schäuble, nur das aus, was Merkel denkt. Und die fürchtet die Steuerdebatte. Sie denkt dabei an die FDP, die stets den Abbau der kalten Progression mit großer Lautstärke forderte und – da sie nie liefern konnte – vom enttäuschten Wähler abgestraft wurde. Außerdem wittert man im Umfeld der Kanzlerin eine Arglist der SPD. Für die Abschaffung der kalten Progression solle die Union doch noch zu Steuererhöhungen für Gutverdiener verleitet werden, um anschließend als Wahlbetrügerin gebrandmarkt zu werden.

Tatsächlich hatte sich am Montagmorgen überraschend SPD-Chef Sigmar Gabriel in die Debatte eingeschaltet: Seine Partei bestehe nicht mehr auf höheren Steuern zur Gegenfinanzierung. „Das muss aufgrund der hohen Steuereinnahmen in dieser Legislaturperiode auch ohne soziale Kürzungen möglich sein.“ Dem Braten traut die Kanzlerin allerdings nicht. Die Merkel-Leute glauben, die Kosten der Abschaffung der verhassten kalten Progression seien mit gut sechs Milliarden Euro jährlich so hoch, dass die SPD am Ende eben doch wieder auf eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes pochen würde. Deshalb legte sich Generalsekretär Tauber öffentlich fest: „Wenn wir einen erkennbaren Haushaltsüberschuss haben, freue ich mich auf einen Vorschlag. Vielleicht hat Herr Gabriel ja einen.“ Falls der Vizekanzler diesen Fehdehandschuh aufnimmt, kommt die CDU um die Debatte nicht mehr herum.