Publizist Roger Willemsen saß ein Jahr lang auf der Tribüne im Bundestag. Und erlebte eine Institution in der Krise. Trotzdem sagt er: Ergreift Partei!

Hamburg. Als Roger Willemsen mit seiner Idee ankam, sagten ihm die Hauptstadtjournalisten: Wie bitte?! Sie wollen ins Parlament? Die politischen Entscheidungen würden längst in Ausschüssen und Gremien abseits der Öffentlichkeit getroffen, meinten sie. Nicht im Bundestag. Willemsen blieb dennoch. Das ganze Jahr 2013. Nun hat der Hamburger Schriftsteller und Fernsehmacher ein Buch über seine Beobachtungen geschrieben. „Das Hohe Haus“ heißt es (Verlag S. Fischer). Ein Gespräch über enttäuschte Erwartung an die Debattenkultur, schockende Momente im Parlament und warum Willemsen dennoch jeden jungen Menschen anspornt, Partei zu ergreifen.

Hamburger Abendblatt:

Ein Jahr haben Sie das Parlament beobachtet. Welches Gefühl hat am Ende überwogen: Ehrfurcht, Enttäuschung oder Langeweile?

Roger Willemsen:

Keines. Mein Eindruck war, dass ich eine große Idee im Zustand ihrer Krise sehe. Es kam mir im Parlament vor wie die Begegnung mit einem Phantom: Etwas, für das Menschen gestorben sind oder im Gefängnis sitzen wie in Afghanistan, verwalten wir Deutschen im Zustand der Dekadenz.

Ist Deutschland zu demokratisch, um Demokratie wertzuschätzen?

Willemsen:

Die Deutschen lassen sich gerne einlullen vom Sowohl-als-auch, von der schönen Vorstellung des Alles-bleibt-so-wie-es-Ist. Deshalb ist Kanzlerin Merkel so beliebt. Einer der größten Fehler der SPD im Wahlkampf war, als sie Merkels Politik als Stillstand entlarven wollte. Aber das Volk liebt Stillstand. Merkels Schlüsselsatz im TV-Duell vor der Wahl war: „Sie kennen mich.“ Mehr muss sie nicht sagen.

Sie gibt den Menschen das Gefühl, dass Deutschland mit ihr funktioniert.

Willemsen:

Die Kanzlerin verödet politische Themen. Sie sagt zwar in wenigen Minuten etwas zu Hitzlspergers Homosexualität – äußert sich aber bis heute nicht zu den Flüchtlingskatastrophen vor Lampedusa. Denn sie weiß, was im Konsens der deutschen Gesellschaft zumutbar ist. Und was nicht mehr.

Lebt der Konsens im Parlament fort?

Willemsen:

Bevor ich meine erste Sitzung besucht hatte, dachte ich schon, dass sich Politiker durch Debattieren umstimmen lassen. Oder dass ein Abgeordneter durchs Feuer geht, um eine Haltung durchzusetzen, die nicht massenkompatibel ist. Die beste Rede in diesem Jahr hat der CDU-Abgeordnete Matthias Zimmer gehalten. Es ging um die Grenzen des Wachstums. Er sagte, dass wir uns das permanente Schneller, Höher und Größer nicht mehr leisten können. Unser Gespenst, sagte er, sei das Wachstum. Komme es abhanden, breche Panik aus. Eine fast philosophische Rede im Bundestag, ein Glanzstück. Nur von einer Partei bekam er keinen Applaus: der eigenen.

Ohne Fraktionszwang ist Demokratie lebendiger?

Willemsen:

Abgeordnete müssen ungeachtet ihrer Fraktion die Möglichkeit haben, gegen die Partei zu stimmen. Vom jungen Politiker in dem Ortsparlament werden stattdessen vor allem das Organisieren von Mehrheiten, rhetorische Plattitüden und das Streben nach Macht trainiert. Noch nie saßen so viele neue Abgeordnete im Parlament wie jetzt. Doch selbst viele der karrierebewussten Jungen kopieren den Stil der Alten. In kleinen Ortsparlamenten beginnen diese Karrieren, die davon träumen, irgendwann auf einem dieser Intercity-Polster im Bundestag zu sitzen.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie die damalige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen bei der Debatte um die Frauenquote im Parlament nur zuhört. Erst abends spricht sie in einer Talkshow. Wird Politik nicht mehr im Parlament gemacht, sondern im Fernsehen?

Willemsen:

Leider. Das Parlament übernimmt sogar viel von der Sprache aus Talkshows. Und Talkrunden nutzen die Figuren des Parlaments für ihr Drehbuch einer politischen Soap-Serie. Einige der ernsthaftesten Politiker gehen nicht in Talkshows.

Sie haben viele Debatten erlebt: zu Drohneneinsätzen, zur Frauenquote, zu Bodenvermessungsgesetzen. Welche Debatte hat Sie am meisten gepackt?

Willemsen:

Als Sebastian Edathy den Abschlussbericht zum NSU-Untersuchungsausschuss im Parlament vorgestellt hat, war ich beeindruckt. Alle Parteien bekannten sich zu einer Schuld. Auf der Besuchertribüne saß der Bundespräsident mit den Familien der Mordopfer. Immer wenn Parteien den Fraktionszwang ablegen, entstehen große Momente des Parlamentarismus.

Eine Idee: ein Parlament mit Politikern, aber auch mit Schriftstellern, Sportlern, Bäckern und Ärzten?

Willemsen:

Warum nicht? Je mehr Berufe im Parlament vertreten sind, desto vielfältiger ist der Sachverstand. Ich habe mich gefreut, wenn in einer Debatte ein Veterinär auftrat und sagte: Niemand hat im Bundestag so viele Spritzen verabreicht wie ich. Stellen wir uns vor: Ein Politiker erzählt vom Besuch bei einem Bauern, wie dieser im wildmorastigen Fenn des Emslands morgens mit der Taschenlampe einer Kuh in den Anus geblickt hat. Solche Geschichten brechen mit der ritualisierten Rhetorik, sie machen Politik gefühlsecht. Sonst bleibt der Bundestag ein von jeder eigenen Erfahrung befreites Simulieren von Volksnähe.

Sie waren vor Ihrer ersten Sitzung euphorisch und sind nach einem Jahr ernüchtert. Würden Sie jungen Menschen dennoch raten, Partei zu ergreifen?

Willemsen:

Unbedingt. Es ist wichtig, dass Menschen ihre Interessen organisieren. Es geht nicht um Fraktionszwang oder Koalitionsfrieden. Was zählt, ist die Frage: Was will ich – der Souverän „Volk“?

Es passiert das Gegenteil: Immer weniger Menschen engagieren sich politisch.

Willemsen:

Die Haltung sehe ich auch. Aber der Zyklus der Depolitisierung währt nun schon sehr lange, und ich sehe in der Piratenpartei oder der Occupy-Bewegung durchaus eine Repolitisierung der Gesellschaft …

... die Piraten haben sich zerfleischt, bevor sie jemals in den Bundestag kamen ...

Willemsen:

... und doch zeigt ihr Aufkommen den Wunsch nach neuen politischen Kräften. Diese Politisierung kann auch die konventionellen Parteien wieder erreichen – und den Bundestag beleben.

Sie saßen auf der Zuschauertribüne. Haben Sie den politisierten Bürger erlebt?

Willemsen:

Die meisten dort waren Schülergruppen. Ihre Kaugummis mussten sie am Eingang ausspucken. Dann schauten sie pflichtbewusst zu. Einmal protestierten vier junge Menschen gegen Drohneneinsätze. Sie hatten ihre Hände rot bemalt, wie Blut. Es war eine grüne Bundestagsvizepräsidentin, die den Protest nach ein paar Sekunden stoppen ließ. Eine schöne Pointe: Schließlich haben die Grünen solchen Protestaktionen ihre Existenz zu verdanken.

Eine Ausnahmesituation. Sie schildern in Ihrem Buch auch, wie eine Abgeordnete nach ihrer Rede zusammenbricht.

Willemsen:

Das hat alle geschockt. Die Frau hielt eine Rede, der Vorsitzende ermahnt sie, dass sie zum Schluss kommen müsse. Dann geht sie zu ihrem Platz und bricht zusammen. Es war dieser Ernstfall, der das nackte Leben zurück ins Parlament brachte. Ein CDU-Mann gab einer Linken Mund-zu-Mund-Beatmung. Ein Abgeordneter sagte mir danach im Fahrstuhl: Man denkt in diesen Momenten über das Leben nach und wie wir miteinander umgehen.

Sie schreiben: Politik ist ständige Anpassungsleistung an neue soziale Verhältnisse, mehr Alte, knappere Ressourcen. Kann Politik Probleme von heute lösen?

Willemsen:

Allenfalls kurzfristig. Der blinde Fleck der Politik ist alles Langfristige. Bei wirklichen Veränderungen müssten die Deutschen mehr für ihren Strom zahlen, damit die Energiewende gelingt. Wir müssten viel von unserem Wohlstand abgeben, um globale Krisen wie den Klimawandel zu lösen. Aber keine Regierung will sich diese Eingriffe leisten. Denn dafür wird man nicht gewählt.

Sie werfen den Parteien vor, dass sie nur Politik machen, die sich lohnt?

Willemsen:

Im Parlament zeigt sich eine Ökonomisierung jeder Debatte. Peer Steinbrück sagt in einer Rede, dass sich Gerechtigkeit rechnen müsse. Wer so denkt, stellt einen Grundwert unserer Verfassung infrage. Es sind nicht mehr alle Menschen gleich, sondern ein Mensch muss erst auf seine Markttauglichkeit überprüft werden. Und Merkel lobt in jeder Rede das bürgerliche Engagement. Warum? Weil es gratis ist. Das sind Leistungen, die den Haushalt des Staates schonen.

Für solche Reden wie von Peer Steinbrück gab es sicher Zwischenrufe aus den Reihen der Parlamentarier. Was war der Zwischenruf des Jahres?

Ach, das war alles wenig ambitioniert. Wenn jemand am Rednerpult sagt, die Opposition reagiere aus dem Bauch heraus, dann ruft die Grüne Renate Künast zurück: „Ich habe gar keinen Bauch.“ Na ja ...