Gül Pinar vertritt die Hamburger Opferfamilie im NSU-Prozess. 100 Tage nach Beginn spricht sie über Zschäpes Schweigen und das Staatsversagen

Hamburg. Wenn heute der 100.Tag im NSU-Prozess beginnt, wird die Hamburger Rechtsanwältin Gül Pinar wie so oft im Gerichtssaal in München sitzen. An fast allen Verhandlungen hat sie teilgenommen, Zeugen aus der Neonazi-Szene befragt, in die leere Mimik der Angeklagten Beate Zschäpe geblickt und die Wut der Angehörigen der Opfer gehört. Für zehn Morde zwischen 2000 und 2007 soll die rechtsextreme Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) verantwortlich sein – auch für den Mord an dem Lebensmittelhändler Süleyman Tasköprü in Hamburg. Jahre blieben die Täter unentdeckt. In die Kritik geriet vor allem die Arbeit von Polizei und Verfassungsschutz. Auch 100 Tage nach Prozessbeginn kritisiert Pinar die „Tatenlosigkeit“ der Bundesanwaltschaft bei der Aufdeckung der Hintergründe des rechtsterroristischen NSU. Ein Gespräch über bewegende Momente im Gerichtssaal, die Ruhe von Richter Manfred Götzl und Kontakte der Neonazi-Szene in den Norden.

Hamburger Abendblatt:

100 Prozesstage liegen hinter Ihnen. Woran erinnern Sie sich besonders?

Gül Pinar:

Mich hat berührt, als der Vater des Kasseler NSU-Opfers ein Bild seines Sohnes zur Anhörung mit in den Saal gebracht hatte. Der Vater hängte es vorne an der Zeugenbank auf. Zschäpe konnte das Bild die gesamte Zeit lang sehen. Der Richter hat das geschehen lassen. Das war wichtig.

Was war Ihre wichtigste Erkenntnis?

Pinar:

Es hat mich überrascht, dass die rechtsextreme Szene in Deutschland so groß ist – und dass sie so strategisch vorgeht, so unverschämt und ekelhaft ist. Rechte Gedanken waren Normalität im Alltag ostdeutscher Jugendlicher. Es war normal, in Bomberjacke rumzulaufen. Es war normal, auf Linke und Ausländer loszugehen.

Wie eng war die Thüringer Nazi-Szene mit dem abgetauchten Trio verbunden?

Pinar:

Das Untertauchen war bekannt. Es war nicht so, dass Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Zschäpe verschwunden waren und niemand hat darüber gesprochen. Die Neonazi-Szene fand das Abtauchen sogar „cool“. Allerdings war die Gruppe, die wusste, wo das Trio lebte und welche Pläne sie hatte, nicht groß. Sonst wären Zschäpe und die anderen früher aufgeflogen.

Zschäpe schweigt bis heute. Wie ist Ihr Eindruck der Hauptangeklagten?

Pinar:

Aus der Sicht einer Strafverteidigerin leistet Zschäpe etwas, was eigentlich unmöglich ist. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Mandant länger als zehn Verhandlungstage stillhalten konnte. Zschäpe aber verzieht seit 100 Tagen kaum eine Miene. Sie kalkuliert genau, sie ist konzentriert. Zschäpe ist keine naive Nazi-Braut. Im Gegenteil: Sie wirkt stolz darauf, durch den Prozess in der Szene eine Ikone zu sein.

Immer wieder werden Zeugen geladen, die in der Neonazi-Szene um das NSU-Trio aktiv waren, oder sie sogar kannten. Aber viele von ihnen wollen sich auf einmal an nichts mehr erinnern. Wie gehen Sie als Anwältin damit um?

Pinar:

Das ist unfassbar schwer zu ertragen. Überzeugte Neonazis sitzen vor dem Richter und lügen oder meinen, sich an nichts zu erinnern, was brisant war. Das ist jedem klar, der im Gerichtssaal sitzt. Dennoch: Richter Götzl macht sehr gute Arbeit. Er setzt nicht auf Konfrontation, sondern auf Ruhe und Beharrlichkeit. Mit seiner Art bringt er verschwiegene Zeugen doch zum Reden.

Wie bei André Kapke, der damals einer der Hauptideologen der rechten Kameradschaft in Thüringen war. Der Richter hat ihn mehrere Tage vernommen.

Pinar:

Kapke sprach die ganze Zeit nur darüber, dass die rechte Szene gegen Atommüll-Transporte nach Gorleben protestiert habe. Dann erinnerte er sich zwar noch daran, dass die Polizei bei der Durchsuchung seiner Wohnung bewaffnet war. Er will sich jedoch nicht an die Waffen in der eigenen Wohnung erinnern. Erst nach Stunden der Befragung erreichte Richter Götzl von Kapke die Aussage, dass man zwar gegen den einzelnen Ausländer nichts gehabt habe. Doch dann sagte Kapke: Wenn man Unkraut jäten würde, würde man ja auch nicht jedes einzelne Blatt aus dem Boden zupfen. Diese Sätze verraten alles über die ungeheuerliche Ideologie der rechtsextremen Szene.

2001 soll Süleyman Tasköprü von dem NSU-Trio ermordet worden sein. Welche Erkenntnisse konnte der Prozess bisher für den Hamburger Mord bringen?

Pinar:

Der Hamburger Fall wurde bisher nur kurz im Prozess behandelt. Denn anders als bei anderen Tatorten ist seit Bekanntwerden des NSU-Bekennervideos klar, dass der Mord von dem terroristischen Trio begangen wurde. Auf dem Video sind Fotos aus dem Lebensmittelgeschäft in Bahrenfeld zu sehen, die nur die Täter gemacht haben konnten.

Ermittler gehen davon aus, dass Mundlos 1999 ein Interview in der Neonazi-Postille „Hamburger Sturm“ verfasst oder gegeben haben könnte.

Pinar:

Die Prozessakten zeigen zudem, dass NSU-Helfer wie Ralf Wohlleben Kontakt zur Neonazi-Szene in den Norden hatten, vor allem zur heute verbotenen Gruppe Blood and Honour. Auch Mandy Struck, eine weitere NSU-Helferin, baute Verbindungen von rechtsextremen Frauengruppen nach Hamburg auf. Weitere Zeugen im Prozess können noch mehr Aufklärung auch für die Hamburger Neonazi-Szene bringen.

Für den 100. Verhandlungstag ist als Zeuge auch der verantwortliche Verfassungsschützer für den V-Mann Tino Brandt geladen. Brandt ist Symbol für die Fehler der Behörde. Was hat der Prozessverlauf bisher über das Staatsversagen verraten?

Pinar:

Noch überhaupt nichts. Wir stehen am Anfang der Aufarbeitung. Die Verfassungsschützer, die für Brandt zuständig waren, haben einen schlechten Eindruck gemacht. Einer wurde von Herrn Götzl sogar mit den Worten entlassen, dass man ihn wieder laden werde und er bis dahin Zeit habe, sich sein Verhalten vor Gericht noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen.

Wie politisch ist der NSU-Prozess?

Pinar:

Weniger als gedacht. Es geht in dem Verfahren ja nicht nur darum, die Schuld für die Morde zu klären, sondern auch den NSU als terroristische Vereinigung zu überführen. Doch die Generalstaatsanwälte sind in keiner Weise daran interessiert, die rechtsextremen Strukturen aufzudecken, aus denen der NSU als mögliche Terrorgruppe erwachsen ist. Diese Tatenlosigkeit der Staatsanwälte macht mich sprachlos.

Die Bundesanwaltschaft sieht den Vorwurf der Mittäterschaft Zschäpes bei sämtlichen Morden, Anschlägen und Überfällen des NSU bekräftigt.

Pinar:

Und das reicht ihnen. Sie haben kein Interesse, die terroristische Struktur des NSU aufzuklären. Und nicht nur das: Die Staatsanwälte deckeln die Aufklärung. Wenn ich als Anwältin der Nebenklage Zeugen zu möglichen terroristischen Strukturen befrage, kommt von den Staatsanwälten sofort Widerspruch. Die Bundesanwaltschaft will offenbar nicht, dass die Öffentlichkeit durch den Prozess erfährt, wie groß die rechtsextreme Neonazi-Szene in Thüringen war. Und wie eng das Netzwerk der Rechten in ganz Deutschland zusammenarbeitet. Diese Wahrheiten sind politisch nicht gewollt.

Können Sie Ihre Vorwürfe belegen?

Pinar:

Mit Dokumenten lässt sich das nicht belegen. Aber ich kenne die Prozesse gegen die RAF-Terroristen. Damals sind die Staatsanwälte ganz anders vorgegangen. Wer in den 80ern ein Plakat „Solidarität mit den Hungerstreikenden“ aufgehängt hat, dem wurde sofort wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung der Prozess gemacht.

Sie übertreiben.

Pinar:

Die Tatenlosigkeit der Staatsanwälte im NSU-Prozess erlebe ich jeden Tag in München. Selbst bei Zeugen, die offensichtlich lügen, haken sie nicht nach. Beim Innenministerium herrscht noch immer die Mentalität vor: Rechtsextremismus ist in Deutschland kein Problem. Jedem Neonazi, der auf der Zeugenbank Platz nimmt, stellen die Staatsanwälte vielleicht eine oder zwei Fragen. Die Anwälte der Familien haken manchmal tagelang nach. Ich bin überzeugt davon, dass sich in der Neonazi-Szene längst herumspricht, dass Zeugen vor dem Münchner Gericht nichts zu befürchten haben. Und nicht nur das: Die Bundesanwaltschaft springt sogar dazwischen, wenn die Fragen der Nebenklage zu unangenehm werden.

Die Hamburger Beamten wehrten sich bis zuletzt gegen die These, dass die Täter Neonazis waren. Ein Einzelfall?

Pinar:

Diese Haltung kannten wir auch aus anderen Bundesländern. Bis heute können die Polizisten nicht erklären, warum sie selbst dann ausschließlich im Kiez-Milieu ermittelten, obwohl längst bekannt war, dass dieselbe Mordwaffe auch in München oder Hessen benutzt wurde.

Wie geht es der Familie Tasköprü heute?

Pinar:

Sie möchte nicht in die Öffentlichkeit. Nur einmal war der Vater beim Prozess, als er als Zeuge aussagte. Die Familie möchte Details des Verfahrens nicht wissen. Es belastet sie zu stark.