Knapp 100 Tage nach Regierungsantritt beginnt die erste heiße Phase der Gesetzgebung. Auf vielen Gebieten hat die SPD ihre Vorstellungen umgesetzt

Berlin. Jetzt wird’s ernst. Die ersten Gesetzentwürfe der Großen Koalition sind auf dem parlamentarischen Weg. Weitere werden in den nächsten Wochen folgen. Die Abgeordneten, egal welcher Partei, zitieren nun gern das strucksche Gesetz: Nichts kommt so aus dem Bundestag, wie es hineinkam. Die Hoffnung, dass sich im Gesetzgebungsverfahren einiges ändert, hat vor allem die Union. Die SPD hat bisher die Debatte bestimmt, die Entwürfe verraten ihre Handschrift. Nachdem die Union die Wahl gewonnen hatte, setzte sich die SPD schon bei den Koalitionsverhandlungen in auffälligen Punkten durch. Nun scheint es bei den Gesetzen ähnlich zu laufen. Das Abendblatt zeigt wie und wo.

Mindestlohn: Ohne den Mindestlohn hätten die Sozialdemokraten einer Großen Koalition nicht zugestimmt. Die Tinte unter dem Koalitionsvertrag war aber kaum trocken, da forderte CSU-Chef Horst Seehofer bereits Ausnahmen für Saisonarbeiter, Praktikanten oder Ehrenamtliche. Für sie alle sollte die gesetzliche Lohnuntergrenze von 8,50 Euro die Stunde nicht gelten. Die Liste wurde bald immer länger. Doch am Ende triumphiert Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Nur für eine kleine Gruppe Langzeitarbeitsloser soll es Sonderregeln geben: Langzeitarbeitslose, die mit einem Lohnkostenzuschuss der Bundesagentur für Arbeit (BA) einen Job finden, werden für ein halbes Jahr vom Mindestlohn ausgenommen. Auch Jugendliche unter 18 Jahren und ohne Ausbildung bekommen keinen Mindestlohn. Bei den Praktikanten wird unterschieden: Wer als Schüler, Student oder in einer Ausbildung zu einem Praktikum verpflichtet ist, muss keinen Mindestlohn erhalten. Für Studienabsolventen, die als Praktikanten arbeiten, sollen die 8,50 Euro die Stunde dagegen gelten. Alles in allem setzte Nahles den Mindestlohn ohne große Ausnahmen durch.

Rente: Beim Thema Rente hatten Union und SPD im Koalitionsvertrag den einfachen Weg gewählt: Beide Parteien warfen ihre Pläne auf einen Haufen und beschlossen einfach alles. Etwas mehr beharkten sich beide Seiten, wie die Pläne finanziert werden sollen. Arbeitsministerin Nahles wünschte sich Geld aus dem Steuertopf, die Union wollte die Rentenreform stärker über Beiträge finanzieren. Am Ende einigte man sich auf einen Kompromiss: Bis 2019 werden die Mehrausgaben aus den Rücklagen der Rentenversicherung und den Verzicht auf Beitragserhöhungen finanziert. Ab 2019 soll dann der Zuschuss aus Steuergeldern an die Rentenkassen steigen. Streit gab es auch darum, wie lange Zeiten der Arbeitslosigkeit bei der Rente mit 63 anerkannt werden. Hier setzt sich Nahles gegen die Union durch, wie es scheint. Beim Arbeitslosengeld sieht es so aus, als ob es keine Grenzen geben wird.

Staatsbürgerschaft: Selbst viele Sozialdemokraten stöhnten auf: Hatten sie sich etwa von der Union beim Doppelpass hereinlegen lassen? Erst nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags fiel den meisten in der SPD nämlich auf, was sie dort eigentlich verabredet hatten. Die Optionspflicht solle lediglich für in Deutschland „geborene und aufgewachsene“ Kinder abgeschafft werden. Diese Einschränkung klang deutlich anders als das, was SPD-Chef Sigmar Gabriel noch auf dem Parteitag versprochen hatte: Er werde keinen Koalitionsvertrag unterzeichnen, in dem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht enthalten sei. Unterm Strich ist allerdings nur eine stark geschrumpfte Version herausgekommen – und die Union pocht nun darauf, das Kriterium „aufgewachsen“ möglichst streng auszulegen. In der Ressortabstimmung hat die SPD aber gute Chancen, das Kriterium eher weit auszulegen. Denn der Bürokratieaufwand bei der Bearbeitung der Anträge wäre immens – wenn sich die Union durchsetzt.

Mieterschutz: Eigentlich hat Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) im Gesetzentwurf nur aufgeschrieben, was der Koalitionsvertrag vorsah. Darin heißt es etwa, dass „in Gebieten mit nachgewiesenen angespannten Wohnungsmärkten bei Wiedervermietung von Wohnraum die Mieterhöhungsmöglichkeiten auf maximal zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete zu beschränken“ seien. Daran hält sich Maas. Die Union ist dennoch unzufrieden. Die Arbeitsgemeinschaften Recht und Verbraucherschutz sowie Umwelt und Naturschutz der Fraktion haben deshalb eigene Eckpunkte aufgeschrieben. Die Union will, dass für die angespannten Wohnungsmärkte „objektive Kriterien“ definiert werden, die auch im Gesetz verankert werden. Zudem soll mit der Gebietsausweisung ein Maßnahmenkatalog verbunden sein, wie Wohnraummangel behoben werden kann. „Die Erarbeitung eines solchen Maßnahmenplans muss zusammen mit der betroffenen Kommune auf der Grundlage eines quantitativ festgestellten Wohnungsneubaubedarfs erfolgen“, heißt es in dem Papier. Dass sich die SPD auf einen solchen Konnex einlässt, ist unwahrscheinlich. Die SPD will das Wohnen ja dort billiger machen, wo kaum Raum für Neubauten besteht.

Energie: Am 8. April soll der Entwurf für die Revision des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Kabinett verabschiedet werden. An den Eckpunkten, die Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) vorgelegt hat, rieb sich vor allem die CSU. Die CSU drohte damit, den Bau neuer Stromtrassen ebenso zu blockieren wie die Reform, wenn er ihr nicht Zugeständnisse beim Ausbau der Biomasse macht und den Bau konventioneller Kraftwerke fördert. Doch Gabriel bleibt reserviert. Nun hat auch noch E.on damit gedroht, das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld nicht erst Ende 2015, sondern schon ein halbes Jahr früher vom Netz zu nehmen. Das kann die Planung in Bayern durcheinanderwirbeln. Die Drohkulisse der CSU wird damit nicht eben stabiler. Gefährlicher wird für Gabriel die EU. Der Ausgang des Verfahrens der Kommission gegen die Ausnahmen bei der Ökostromförderung für energieintensive Betriebe ist die große Unbekannte in der Rechnung des Ministers.

Gesundheit: Bei seinem ersten großen Gesetzesvorhaben hat Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) eine letzte Bastion der Union in der Gesundheitspolitik verteidigt: Bei der Reform der Krankenkassenfinanzierung, die den Kassen ab 2015 weitgehend freie Hand gibt bei der Festlegung ihrer Beitragssätze, soll der Arbeitgeberanteil an den Kassenbeiträgen auf der jetzigen Höhe festgeschrieben werden. Diese Entkopplung der Lohnzusatzkosten vom erwarteten Anstieg der Gesundheitskosten haben sie durchgesetzt, darüber hinaus konnte die Union in der Gesundheitspolitik kaum erkennbare Akzente setzen.

Finanzen: Die Haushaltspolitik war eines der wenigen Felder, aus dem die Union als Sieger hervorgegangen ist. Die SPD wollte die Steuern erhöhen und mehr Geld in die Infrastruktur stecken. Die Union lehnte Steuererhöhungen ab und bestand auf Schuldenabbau. Diese Vorgaben setzte Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) um. 2015 sieht seine Haushaltsplanung eine „schwarze Null“ vor. Als Wermutstropfen bleibt, dass Schäuble dafür in die Sozialkassen greift. Doch am Ende wird es Schäuble sein, der für den ersten ausgeglichenen Haushalt seit 1969 gefeiert werden wird.