Die ehemalige Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann aus Altona erklärt, warum sie alle Sanktionen gegen Arbeitslose abschaffen will.

Berlin. Lauten Protest gab es bei der Einlasskontrolle im Abgeordnetengebäude. Halten sonst die Besucher des Paul-Löbe-Hauses im Berliner Regierungsviertel achtungsvoll still, wenn ihre Taschen durchleuchtet und ihre Körper abgetastet werden, so brüllte am Montag eine Frau mit struppiger Kurzhaarfrisur: „Ich lasse mich hier nicht bespitzeln!“ Nein, das richte sich nicht persönlich gegen das Sicherheitspersonal, aber: „Ich finde das System scheiße.“

Später auf der Besuchertribüne im Sitzungssaal des Petitionsausschusses war eine weitere eigenwillige Haltung gegenüber den bestehenden Verhältnissen zu besichtigen. Eine ältere Frau mit Stirnband und auch sonst indianischer Anmutung stand auf und gestikulierte an der Brüstung. Als ein Ordner sie dezent ansprach, hob sie gleich beide Hände über den Kopf, als bedrohe er sie mit vorgehaltener Maschinenpistole.

Es war halt ein Tag, an dem sich das Parlament für jene öffnete, die Hass auf das System empfinden und dem Staat jedes Übel zutrauen. Also für jene, die Arbeitslosengeld II beziehen und es nicht akzeptieren, dass Leistungen gekürzt werden, wenn man Aufforderungen des Jobcenters nicht nachkommt. Gekommen waren diese Leute, weil der Petitionsausschuss in öffentlicher Sitzung über eine von gut 90.000 Bürgern unterstützte Petition beriet, laut der auf Sanktionen bei Hartz-IV-Beziehern verzichtet werden soll. Und vorgetragen wurde das Begehr von der Heldin des Protestes, Inge Hannemann.

Die Initiatorin der Petition gilt als „Hartz-IV-Rebellin“, seit die ehemalige Mitarbeiterin eines Hamburger Jobcenters von ihrem Arbeitgeber 2013 freigestellt wurde, weil sie sich weigerte, Sanktionen zu verhängen, und öffentlich das „menschenunwürdige“ System der Arbeitsvermittlung kritisierte. Derzeit befindet sich die 45-Jährige in arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen mit ihrem Arbeitgeber. 2015 will sie bei der Wahl zur Bezirksversammlung Hamburg-Altona für die Linkspartei antreten.

Vertreter dieser Partei begrüßten sie am Montag aufs Herzlichste im Bundestagsausschuss, Linken-Vorsitzende Katja Kipping suchte Hannemanns Nähe. Doch rebellisch gab sich die „Rebellin“ nicht. In grauem Blazer und roter Bluse fächert sie auf, warum sie Hartz IV für unmenschlich hält. „Es ist wirklich meine eigene Betroffenheit in den ganzen acht Jahren, die ich vor Ort erlebt habe.“ In der Sache hart, im Ton aber verbindlich, nannte Hannemann drei Gründe für ihre Forderung, die Sanktionsparagrafen aus den Sozialgesetzbüchern zu streichen. Erstens könne man doch nicht die ohnehin nur das Existenzminimum sichernden Hartz-IV-Leistungen per Sanktion weiter kürzen und dadurch „Menschen in existenzielle Not bis hin zur Obdachlosigkeit“ treiben.

Zweitens dürfe der Staat gegenüber Arbeitsuchenden nicht als „Erziehungsberechtigter“ auftreten und durch Sanktionen „die Menschen behandeln, als wären sie minderjährig“. Wobei es, so Hannemann, Minderjährige besser hätten. Ein Kind erhalte bei Fehlverhalten „vielleicht Fernsehverbot, aber das zieht einem nicht die Lebensgrundlage weg“. Nicht einmal mit den einschlägigen Gesetzen für die Jugendhilfe und für Schwerbehinderte würden Jobcenter-Mitarbeiter vertraut gemacht. Anders geschult könnten sie mehr Menschlichkeit an den Tag legen. Viele Betroffene seien gar nicht in der Lage, in die Jobcenter zu kommen, oder sie sähen absolut keinen Sinn mehr darin, weil es ohnehin keine angemessene Arbeit gebe.

Drittens hätten jene Sanktionen, die 2012 gegen rund drei Prozent der Hartz-IV-Bezieher verhängt wurden, kaum eine Wirkung. Eine Rückführung in den Arbeitsmarkt werde damit nicht erreicht, sondern allenfalls, dass die Betroffenen „sozial isoliert“ würden und ihre Frustration „an Familienmitgliedern oder an Mitarbeitern der Jobcenter auslassen“.

Überzeugt hat sie die Ausschussmehrheit damit nicht. Zwar waren die Linken-Abgeordneten auf Hannemanns Seite, und für die Grünen ließ Beate Müller-Gemmeke bei der anschließenden Befragung erkennen, dass die Grünen den für jede Sanktion erforderlichen Bürokratie-Aufwand für unangemessen halten. Doch für die Union betonte Christel Voßbeck-Kayser (CDU), dass Empfänger von Sozialleistungen, „auch Pflichten“ haben und dass es außer Sanktionen keine Möglichkeit gebe, „Missbrauch zu verhindern“. Auch die parlamentarische Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium, Gabriele Lösekrug-Möller (SPD), verwies darauf, dass es „voraussetzungslose Sozialleistungen“ ohne Mitwirkung der Betroffenen nicht geben könne. Zur Geschichte über einen Diabetiker, der sich nicht einmal mehr seine Medizin leisten kann, merkt die Staatssekretärin nur an, auch der Mann müsste eigentlich nach wie vor krankenversichert sein – und erntet ein erstes Stöhnen in den Besucherrängen. Ob sie nicht wisse, wie leicht Hartz-IV-Empfänger ihren Versicherungsschutz verlören, raunt einer.

Ausschuss kann bloß Empfehlungen zum Umgang mit Petitionen geben

Doch der Ton solcher Reden und Gegenreden war zurückhaltend, und Nachdenklichkeit kam auf, als Hannemann erzählte, wie wenig Zeit sich Jobcenter für die Langzeitarbeitslosen nähmen, wie brüsk manche Anschreiben seien, wie absurd angebliche Qualifizierungsmaßnahmen. Zwar ist nicht damit zu rechnen, dass hieraus im Parlament viel folgt. Der Ausschuss kann bloß Empfehlungen zum weiteren Umgang mit Petitionen geben – wozu aber im konkreten Fall am Montag noch kein Beschluss gefasst wurde –, und Lösekrug-Möller ließ nur erkennen, dass die bei jungen Leuten unter 25 Jahren besonders strengen Sanktionsregeln eventuell überarbeitet werden könnten. Ein Mann auf der Tribüne mault gedämpft, aber vernehmbar: „Die hat ja gar keine Ahnung, wie das läuft im Jobcenter.“

Aber deutlich wurde am Montag im Petitionsausschuss, dass der Bundestag hier ein Forum hat, auf dem er sich denen stellt, die selbst den stärksten Argumenten der Politiker einfach nicht zustimmen. Ein Forum aber auch, auf dem jene System-Kritiker sich ans sachliche Debattieren gewöhnen. Denn mit der Zeit wurde es auf der Besuchertribüne immer ruhiger, die Indianer-Frau hielt still, und daher hatte Inge Hannemann jedenfalls mit einem Satz unumschränkt recht. Nämlich mit ihrem letzten, den sie an ihre Fans im Auditorium richtete: „Ihr habt euch an die Regeln gehalten.“