Heimische Wirtschaft ist stark mit Firmen aus westlichen EU-Ländern vernetzt und verliert zunehmend wichtige Kunden und Lieferanten

Berlin. Während die deutsche Industrie in den vergangenen Jahren ihre starke Stellung weiter ausbauen konnte, erleben viele EU-Staaten eine rasante Deindustrialisierung. Der Abstieg der klassischen Industrieländer Italien, Frankreich und Großbritannien wird zu einer zunehmenden Gefahr für die deutsche Wirtschaft. Dies zeigt eine Studie, die im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) vom Institut der deutschen Wirtschaft Consult erstellt wurde. So hat bereits fast ein Drittel der Unternehmen einen wichtigen Kunden in Westeuropa verloren. Jede zehnte Firma beklagt den Wegfall von Lieferanten.

„Der zunehmende Rückgang der Industrie in Europa ist für unsere heimischen Firmen von Nachteil, weil wichtige Kunden, Lieferanten und Kooperationspartner verloren gehen“, warnen die Forscher. Der Wegfall von Konkurrenten falle dagegen weit weniger ins Gewicht. Absurd sei der Vorwurf, der deutsche Exporterfolg sei die Ursache für die Wirtschaftsprobleme der EU-Partner. Da die Industrie innerhalb der EU so stark vernetzt sei, profitierten die anderen Länder vielmehr von der deutschen Exportstärke.

„Europa braucht eine Reindustrialisierung“, sagte vbw-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt. Davon würde auch Deutschland stark profitieren. Hierzulande entfallen 22,3 Prozent der gesamten Wertschöpfung auf die Industrie. Der EU-Durchschnitt liegt dagegen bei rund 15 Prozent. Im Gegensatz zu Deutschland, wo der Industrieanteil seit 1995 sogar leicht gestiegen ist, weisen fast alle anderen EU-Länder sinkende Quoten auf. In Frankreich erwirtschaftet die Industrie nur noch ein Zehntel des Bruttoinlandsprodukts, sechs Prozentpunkte weniger als 1995. In Großbritannien sind es noch 10,8 Prozent (minus zehn Prozentpunkte), in Italien 16 Prozent (minus 5,6 Prozentpunkte). Auch die Niederlande, Spanien oder Belgien sind von der Deindustrialisierung betroffen. Einen Aufstieg ihrer industriellen Fertigung verzeichnen dagegen Tschechien, Ungarn und Polen: Hieran haben die hohen Direktinvestitionen aus dem Ausland – die gerade auch aus Deutschland kommen – erheblichen Anteil.

Die Stärke der hiesigen Unternehmen, das „Geschäftsmodell D“, beruht laut der IW-Analyse auf drei Faktoren. Neben der Industrieorientierung und der Exportstärke profitiere die deutsche Wirtschaft von ihrer ausgeprägten Drehscheibenfunktion. „Zu jedem Euro eigener Wertschöpfung kommen 50 Cent zusätzliche Wertschöpfung durch den inländischen Vorleistungsverbund hinzu.“ Aber auch die europäischen Lieferanten profitierten von der Drehscheibenfunktion der deutschen Unternehmen. Die hiesige Industrie hat in den vergangenen Jahren ihren Vorleistungsanteil deutlich erhöht, wobei vor allem Vorprodukte und Dienstleistungen aus dem europäischen Ausland bezogen werden. Allerdings sinkt dabei inzwischen die Bedeutung Westeuropas, während verstärkt Osteuropa zum Zuge kommt – nicht nur als Lieferant, sondern auch als Absatzmarkt.

Dieser Trend zu internationalen Wertschöpfungsketten wird sich nach Einschätzung der Wissenschaftler in den nächsten Jahren verstärkt fortsetzen. Laut einer IW-Umfrage geben derzeit noch rund 90 Prozent der hiesigen Industrieunternehmen an, dass ihr wichtigster Kunde, Lieferant oder Wettbewerber seinen Hauptsitz in Deutschland hat. Für das Jahr 2016 sehen hingegen nur noch knapp 83 Prozent der Unternehmen den Sitz ihrer größten Kunden, Lieferanten oder Wettbewerber in Deutschland. Die hiesige Wirtschaft wird somit noch internationaler. Das gilt vor allem für stark exportorientierte Branchen wie die Chemie- und Kunststoffindustrie sowie den Maschinenbau.

Da die EU für die hiesige Wirtschaft eine herausragende Bedeutung hat, sehen die Unternehmen die Deindustrialisierung der Nachbarländer mit Sorge. Knapp zwei Drittel der Betriebe fürchten, dass ihre Wettbewerbsfähigkeit negativ beeinflusst werden würde, wenn ein Lieferant ihrer Lieferkette ausfiele. Während derzeit die meisten ausländischen Zulieferer aus den westlichen EU-Staaten kommen, rechnen die Unternehmen hier mit einer deutlichen Verschiebung in den kommenden Jahren. Schon für 2016 erwarten die Betriebe, dass der Anteil der restlichen Welt erheblich größer geworden ist als der EU-Anteil an den Zulieferungen. Vor allem China steht dabei im Fokus.

Auch die wichtigsten Kunden der hiesigen Wirtschaft sitzen immer häufiger im Ausland. Dieser Trend wird sich laut Umfrage bis 2016 nochmals deutlich beschleunigen. Besonders der Maschinenbau und die Metallindustrie stellen sich auf eine wachsende Nachfrage in Regionen außerhalb Westeuropas ein. Aber auch in anderen Branchen des Verarbeitenden Gewerbes sinkt der Anteil der Unternehmen, die ihren Hauptkunden in Deutschland oder in Westeuropa haben, in den nächsten Jahren weiter ab. Dabei sehen die Unternehmen die größte Dynamik in der übrigen Welt. „Sieht derzeit weniger als ein Viertel des verarbeitenden Gewerbes dort seine größten Kunden, erwarten dies in einigen Jahren bereits 37 Prozent“, heißt es in der Analyse von IW-Consult. So erwarten beispielsweise mehr als ein Drittel der Maschinenbauer, dass in Zukunft Unternehmen aus China zu ihren Hauptkunden avancieren werden.

Die IW-Unternehmensumfrage zeigt, wie stark die hiesige Wirtschaft mit dem EU-Ausland verflochten ist. Rund ein Drittel der Industriebetriebe hat wichtige Kunden in Westeuropa, knapp 13 Prozent beziehen wesentliche Vorprodukte aus Mittel- und Osteuropa. Je größer die Unternehmen sind, desto stärker ist die Verflechtung mit dem europäischen Ausland. Das gilt auch für wichtige Lieferbeziehungen. Durch den industriellen Abstieg Westeuropas seien vor allem die großen, international aufgestellten und forschungsintensiven Exportunternehmen bedroht, die maßgeblich für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands verantwortlich seien, stellen die IW-Ökonomen fest. „Damit kann die Deindustrialisierung in Europa durchaus eine Gefahr für das Geschäftsmodell D darstellen“, so die Warnung der Experten. Denn die erfolgreichen Unternehmen seien häufiger in Europa vernetzt als die weniger erfolgreichen Unternehmen. Die Deindustrialisierung macht sich derzeit vor allem durch den Verlust von Kunden bemerkbar. So hat fast ein Drittel der befragten Unternehmen einen wichtigen Kunden in Westeuropa verloren. Jeder Zehnte beklagt den Wegfall von Lieferanten.

Brossardt, nennt als Grund für den wirtschaftlichen Abstieg Westeuropas die unterbliebenen Reformen in den meisten westlichen EU-Ländern. „Zum Teil haben die Staaten aber auch bewusst einen Prozess der Deindustrialisierung eingeleitet. Das war ein Irrweg“, rügt Brossardt. Sorge bereite ihm der Anstieg der industriellen Arbeitskosten in Europa: „Die elf Staaten mit den weltweit höchsten Arbeitskosten kommen aus Europa.“

Noch hat sich der Industriestandort Deutschland in den vergangenen Jahren gut entwickelt. Die vbw bescheinige Deutschland Platz zwölf unter den dynamischsten Industriestandorten der Welt. Die Studie zeigt aber auch, dass eine Reihe von Schwellenländern in Asien und Lateinamerika deutlich aufholen konnten. Platz eins belegt mit einigem Abstand China. Auch Vietnam, Indien, Peru, Mexiko, Brasilien und Kolumbien sind unter den Top 10. Und auch die japanische Industrieproduktion ist nach einer längeren Schwächephase wieder leicht gestiegen. An Herausforderungen mangelt es also nicht.