2013 ging es mit der jungen Partei bergab. Sie kämpft ums politische Überleben. Spurensuche in Hamburg und Berlin.

Hamburg/Berlin. Sebastian Seeger nennen sie nur den „Analog-Piraten“. Sein Handy sieht aus wie aus Zeiten, als Musik noch von Kassetten dudelte. Er hat kein Profil bei Facebook, er hatte nie getwittert, bevor er vor einigen Jahren zur Piratenpartei kam. Jetzt ist er Chef des Hamburger Landesverbandes. Die anderen haben Seeger überredet, wenigstens zu twittern. Qua Amt sei das eigentlich Pflicht. Also schreibt Seeger auf Twitter zaghaft seine erste Nachricht: „Und wie habt ihr euch bei eurem ersten Tweet gefühlt? Erzählt mal...“ Ein Smartphone mit großem Display hat er noch nicht. „Konnte ich bisher erfolgreich verhindern.“

Die Geschichte der Piraten und der deutschen Parteiendemokratie ist wie die Erzählung über eine alte Dame, die den Computer als neues Spielzeug entdeckt. Viele Jahre lief alles in eingefahrenen Bahnen, gleiche Rituale, analoge Politik mit Plakaten und in Talkrunden, Entscheidungen auf Parteitagen, in Hinterzimmern, auf Fraktionssitzungen. Die alte Dame wählte Parteichefs und Generalsekretäre, die dann den Kurs und viele Inhalte bestimmten. Dann kamen die Piraten mit dem Versprechen, jedem Mitglied in ihrer Partei eine gleichwertige Stimme zu geben.

Die Werkzeuge für ihre Basisdemokratie waren Online-Foren, Twitter, digitale Feedback-Seminare, an dem jeder teilnehmen konnte. Liquid Democracy nannten sie ihr Konzept, eine Demokratie im ständigen Fluss, wie ein Netzwerk, und jeder ist per Computer angeschlossen. Das Internet soll für die Piraten eine riesige Volksversammlung sein. Ihre Themen waren Netzpolitik, Bürgerrechte, Datenschutz, dazu ein bisschen Soziales und ein Schuss liberale Drogenpolitik. Hauptsache anders.

2012 lief das großartig. Es war das große Jahr der jungen Piraten. Die erst 2006 in Deutschland gegründete Partei kam mit dem Schwung aus der Wahl in Berlin und schaffte es in drei weitere Landesparlamente. Im Bund waren sie zeitweise gleichauf mit den Grünen. Eine neue Kraft. Demokratie 2.0.

Doch irgendwann, kurz vor dem Jahr 2013, schmierte die Software dieser Partei ab. Das Betriebssystem brach zusammen unter den Twitter-Fehden: Die Basis pöbelte gegen die Spitze, die Parteiführung manchmal auch gegeneinander. Oftmals stritten sie über rein interne Debatten, und doch waren die Shitstorms öffentlich. Transparent, halt. „Auch die Journalisten lesen Twitter, und sie fanden jeden Tag eine neue Popcorn-Geschichte über die Piraten“, sagt Hamburgs Piraten-Chef Seeger. Einige der wichtigen Köpfe traten Ende 2012 und 2013 zurück. Wahlen gingen verloren. Bei der Bundestagswahl erreichte die Partei magere 2,2 Prozent der Stimmen. Zur Hälfte sieht Seeger die Schuld für den Abstieg bei den Piraten selbst, zur Hälfte aber auch bei den Medien. „Erst hypen sie uns, dann lassen sie uns fallen – und warnen vor Weimarer Verhältnissen in Deutschland, weil es zu viele kleine Parteien gebe.“ Das ist seine Analyse. Egal, irgendwer muss nun einen Knopf drücken. Reset, Neustart, alles auf Anfang.

Seeger erzählt vom Anfang, von seinem ersten Treffen mit anderen Piraten. Sie hatten ihren Stammtisch im Haus 73 in der Sternschanze, doch weil da gerade alle Tische besetzt waren, seien sie nach hinten auf den Hof gegangen. Draußen hockten sie auf Bierbänken, neben den Mülltonnen, und machten Politik. Es ist auch dieser Charme des Chaotischen, das Unangepasste, das die Piraten so beliebt gemacht hat.

Heute ist Seeger Vorsitzender in Hamburg. Die Partei hat mittlerweile ihre eigene Parteizentrale, einen Raum, immer noch hier in der Schanze. Auch die Bierbänke sind geblieben. In der Ecke liegen Flyer gegen den „Präventionsstaat“ und den „Kontrollwahn“ und für eine „solidarische Asylpolitik“. 20 Piraten sitzen an den Tischen, meist junge Männer, manche mit angegrautem Haar. Einmal in der Woche treffen sie sich hier zur großen Runde. Gerade geht es um die Arbeit der Stadtteilgruppe. Sie wollen eine Lösung für die Rote Flora finden, die nur 50 Meter Luftlinie entfernt gerade wieder mobilisiert.

Seeger trägt Kapuzenpullover und Baseball-Käppi. 32 Jahre ist der Psychologiestudent alt und schon seit drei Jahren Mitglied der Partei. „Die Pionierstimmung ist geblieben. Und wir sehen, dass die etablierten Parteien mittlerweile alle einen Internet-Beauftragten haben. Das ist unser Verdienst.“

Tatsächlich konnten die Piraten die etablierten Parteien aufwirbeln. Ihre Kampagnen für Datenschutz mobilisierten Bürger zu Demonstrationen und Wähler an die Urnen. Zwar konnte die Partei wenige Lösungsvorschläge für die Euro-Krise oder die Rentenreform entwickeln, aber irgendwie hatte das auch keiner von ihnen erwartet. Die Piraten waren für viele auch Protestpartei, Projektionsfläche enttäuschter Grünen- oder FDP-Wähler.

Doch 2013 wurden die Piraten selbst bei ihrem Urthema Transparenz kaum wahrgenommen – zum Beispiel bei den Nebeneinkünften von Kanzlerkandidat Peer Steinbrück oder der Debatte um Großprojekte wie der Berliner Flughafen oder die Elbphilharmonie. Und nicht zuletzt: Der Abhörskandal durch amerikanische Geheimdienste. Hätte es einen besseren Motor für die Mobilisierung von Piraten im Wahlkampf geben können?

Doch wahrgenommen wurde vor allem der interne Zank. Einer, der davon viel mitbekommen hat, ist Bernd Schlömer. Seit 2012 war er Bundesvorsitzender. Anfang 40 ist er nun, lebte und studierte lange in Hamburg, ist Fan vom FCSt.Pauli. Doch im Stadion war er länger nicht. Keine Zeit, der Stress.

Schlömer erzählt im Gespräch mit dem Abendblatt viel vom Tempo, in dem seine Partei nach oben schoss. Vor 2009 hatten sie nur 2500 Mitglieder, heute sind es 30.000. Er erzählt, wie sie bei der Europa-Wahl 2009 nicht einmal ein Prozent der Stimmen holten und bei der Wahl in Schleswig-Holstein 2012 schon mehr als acht Prozent. Schlömer war Stoßdämpfer einer Partei, die mit 200 Stundenkilometern durch die deutsche Parteienlandschaft raste.

Bernd Schlömer entschleunigt jetzt. Kurz nach der versemmelten Bundestagswahl im September trat er als Parteichef zurück. Ein halbes Jahr macht er nun Pause, zieht endgültig von Hamburg nach Berlin, will einen Angelschein machen. Der Abwärtstrend, sagt er, habe mit den Rücktritten von Julia Schramm und Matthias Schrade im Herbst 2012 begonnen. Beide waren Bundesvorsitzende, beide Piraten-Stars. „Aber sie konnten sich zu wenig politisch einmischen, sie mussten sich zurückhalten, weil die Führung nur als Management der Partei gilt.“ Vertrauen der Basis in die Spitze fehlte. „Die Krise habe ich zu spät erkannt.“

Und das Gepöbel der Piraten traf auch Schlömer. Als er vor einem Jahr forderte, dass Gleichberechtigung für Frauen nicht nur fördern, sondern auch fordern hieße, rollte ein Shitstorm über ihn her. Bei Twitter lief die Debatte unter dem digitalen Chiffre #sexistischekackscheiße. Schlömer wurde als „Amokläufer“ oder „Arschloch“ bezeichnet. Und trotzdem sagt er heute: „Andere Parteien werden immer neidisch auf uns schauen. Weil wir mutig sind und innovativ. Auch wenn es kräftig Gegenwind gibt.“ Schlömers Ziel war immer die Professionalisierung der Piraten. Auch jetzt noch. Ziel müsse sein, fachpolitische Sprecher einzusetzen, die sich auch ohne Gegenfeuer von der Basis zu aktuellen Themen im Namen der Partei äußern könnten. In der Geschäftsstelle in Berlin haben sie sechs neue Mitarbeiter eingestellt. Techniker, Verwaltung. „Wir brauchen Verlässlichkeit.“ Bisher läuft bei den Piraten vieles nur durch Ehrenamtler wie Schlömer.

In den Gemeinden und Kommunen hätten die Piraten starke Ortsverbände, sagt er. Auch der Hamburger Seeger sagt: In sechs von sieben Bezirken gibt es Piraten. Nur Wandsbek fehle noch. Die Piraten bauen ihre Partei von unten und oben gleichzeitig wieder auf. Schritt für Schritt, von den Bezirken über das Land in den Bund – das ist der neue Pragmatismus vieler Piraten. In neun Bundesländern wählen die Menschen 2014 Kreistage und Gemeinderäte, in drei Ländern die Landtage. Im Mai sind in Hamburg Bezirkswahlen. „Wir brauchen viele Mitglieder für Info-Stände, für die Arbeit in den Bezirken, um dort auch in der lokalen Presse präsent zu sein“, sagt Seeger. Erst in die Bezirke einziehen, dann 2015 in die Bürgerschaft. Er klingt jetzt wieder ziemlich nach Analog-Pirat.