Verhältnis des Bundespräsidenten zu Russland ist schwierig. Sein Vater verschwand in einem Sowjetlager

Berlin. Die Hürde ist hoch zwischen den beiden Männern, über Jahrzehnte hat sie sich aufgebaut und wuchs sogar noch weiter, nachdem die tatsächliche Mauer aus Stein und Stacheldraht schon längst gefallen war. Auf der einen Seite der DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck, der die Freiheit mit Leidenschaft zu seinem Lebensthema gemacht hat. Auf der anderen Seite der frühere Top-Agent des sowjetischen Geheimdienstes KGB, Wladimir Putin, der kühle Machtmensch. Wann die beiden heutigen Präsidenten diese Hürde überwinden, ist seit dem Wochenende so ungewiss wie lange nicht.

Gauck hat sich entschieden, Anfang nächsten Jahres nicht zu den Olympischen Winterspielen in die russische Schwarzmeerstadt Sotschi zu reisen. Auch wenn das Bundespräsidialamt nicht das große Wort „Boykott“ verwendet – Gaucks Entscheidung ist als deutliches Signal zu verstehen: Das deutsche Staatsoberhaupt lässt nicht locker im Ringen um Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in Russland. Gaucks Botschaft ist auch deshalb so unmissverständlich, weil sie sich aus seiner Lebensgeschichte erklärt. Denn spätestens seit seinem 13. Lebensjahr ist Russland, damals noch die Sowjetunion, für Gauck eine Schicksalsmacht.

In seiner Autobiografie beschreibt Gauck die dramatischen Umstände, unter denen sein Vater Wilhelm im Sommer 1951 im mecklenburgischen Wustrow beim Verwandtenbesuch spurlos verschwand. Gauck war da elf Jahre alt. Dass sein Vater vor einem sowjetischen Militärtribunal in Schwerin unter anderem wegen „antisowjetischer Hetze“ zu einer jahrzehntelangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, erfuhr der Sohn erst viel später. Zwei Jahre lang lebte er mit Mutter und Geschwistern in Ungewissheit. Erst 1953, da war Gauck dann 13, brachte die Familie in Erfahrung, dass der Vater lebte und in einem sibirischen Arbeitslager inhaftiert war.

Das Verschwinden des Vaters, so erzählt es Gauck in seinem Buch, prägte nicht nur das Familienleben, sondern vor allem auch seine persönliche Haltung zum DDR-Regime und zur damaligen Sowjetunion. „Das Schicksal unseres Vaters wurde zur Erziehungskeule. Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die kleinste Form der Fraternisierung mit dem System aus“, schreibt Gauck. „Intuitiv wehrte ich das Werben des Regimes für die Akzeptanz seiner moralischen und politischen Ziele ab, denn über uns hatte es Leid und Unrecht gebracht.“

1955 kam der Vater vorzeitig frei, abgemagert und äußerst geschwächt. Als Teenager erlebte Joachim, wie sein Vater erst langsam wieder zu Kräften kam und nach einem Jahr schließlich wieder als Schiffslotse seine Arbeit aufnehmen konnte. Wie sehr ihn diese Zeit bis heute noch beschäftigt, zeigte sich wieder vor einigen Wochen. Anfang Oktober besuchte Gauck in Berlin eine Ausstellung über russische Straflager wie das, in dem sein Vater vier Jahre zubringen musste. Als der Bundespräsident nach seinen Empfindungen beim Gang durch die Museumssäle gefragt wurde, musste der 73-Jährige merklich schlucken. „Sie werden verstehen, dass ich diese Ausstellung nicht wie andere erlebe“, antwortete er.

Als DDR-Bürgerrechtler und später als Bundesbeauftragter für Stasi-Unterlagen konnte Gauck seinen Widerwillen auch berufsmäßig ausleben. Doch als Staatsoberhaupt ist es für Gauck komplizierter geworden: Will er seine russlandkritische Haltung weiter sichtbar machen, muss er jetzt sorgsam das Risiko diplomatischer Verwicklungen abwägen. „Der Lernprozess besteht bei mir nicht darin, dass ich mir die Wichtigkeit der Menschenrechte klarmachen müsste“, sagte Gauck im Frühling, ein Jahr nach seinem Amtsantritt als Bundespräsident, dem „Spiegel“. „Ich muss aber darauf achten, sie so zu vertreten, dass ich ihrer Bedeutung gerecht werde und gleichzeitig das Interesse der Bundesrepublik an guten Beziehungen zu dem jeweiligen Land nicht aus dem Auge verliere. Da übe ich manchmal noch.“

Das Ergebnis: Gauck ist nach 20 Monaten als Präsident noch nicht in Russland gewesen. Ein Mal stand ein Besuch bevor, das war wenige Wochen nach seinem Amtsantritt, im Sommer 2012. Damals rangen Bundespräsidialamt und Kreml um einen Termin Putins und Gaucks zur Eröffnung des Deutschlandjahres in Moskau. Letztendlich kam das Treffen nicht zu Stande, auf beiden Seiten kursieren seither unterschiedliche Versionen zu den Ursachen. Gauck und Putin übernahmen lediglich die Schirmherrschaft über das Projekt, ohne sich bis dahin je die Hand gegeben zu haben.

Im Mai dieses Jahres reiste Putin dann zum Antrittsbesuch nach seiner Wiederwahl nach Berlin und traf neben der Bundeskanzlerin auch Gauck. Die Atmosphäre sei sehr kühl gewesen, ist von Teilnehmern zu hören. Wird die diplomatische Zurückhaltung aus dieser Formel herausgerechnet, muss es wohl ein eisiges Aufeinandertreffen gewesen sein. Gauck dürfte, wie vorher und hinterher bei verschiedenen Gelegenheiten, mangelnde Rechtsstaatlichkeit und anhaltende Menschrechtsverletzungen in Russland angesprochen haben.

Im Juli, auf einer Reise durch die baltischen Staaten, gab es wieder solche Momente: In Russland sei es noch „ein weiter Weg bis hin zur Rechtsstaatlichkeit, die wir in Europa wollen“, sagte Gauck in Litauen. Und in Estland kam wieder die Geschichte seines Vaters zur Sprache: Ob er denjenigen Russen verzeihen könne, die den Vater jahrelang im Straflager interniert hätten, wurde Gauck dort gefragt. Er antwortete, dass Hass und Buße ihm fremd seien. Verzeihen könne er aber nur denjenigen, die sich zu ihren Taten bekannt hätten.

Wann die hohe Hürde überwunden werden kann, wird derzeit zwischen Bundespräsidialamt und Kreml ausgelotet. Eine Sprecherin Gaucks: „Beide Seiten arbeiten intensiv an Planungen für einen Besuch in Russland.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wollte Gaucks Entscheidung nicht kommentieren. Ob sie oder ein anderes Regierungsmitglied zu den Spielen nach Russland fährt, ist weiter offen. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin betonte, Russland sei und bleibe ein wichtiger Partner Deutschlands. Dies schließe einen offenen Dialog über Demokratie und Menschenrechte ein.