In 78 Tagen zum Parteichef: Wie Christian Lindner nach der Pleite bei der Bundestagswahl die außerparlamentarische FDP übernahm

Berlin. Es gab eine entscheidende Kampfkandidatur auf dem Parteitag der FDP an diesem Wochenende. Das war nicht die Wahl Christian Lindners zum neuen Parteivorsitzenden. Zwar waren die 79 Prozent, mit denen die Delegierten ihn zu ihrem Anführer in der außerparlamentarischen Opposition kürten, ein ordentliches Ergebnis. Immerhin hatte es zwei Gegenkandidaten gegeben. Aber Götz Galuba und Jörg Behlen waren eher angetreten, um dem Parteitag überhaupt eine Auswahl zu geben. Wirkliche Chancen hatten die beiden Lokalpolitiker nicht. Deshalb sagte die Wahl Lindners noch nichts darüber aus, inwieweit die Partei bereit ist, ihm auch inhaltlich zu folgen. Das entschied sich bei der Kandidatur von Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Die Düsseldorfer Bürgermeisterin ist nicht bekannter als Galuba oder Behlen. Aber Lindner hatte sie als stellvertretende Bundesvorsitzende vorgeschlagen. Sie trat gegen Frank Schäffler an, als Euro-Rebell bekannt wie ein bunter Hund – und Lindner in herzlicher Abneigung verbunden.

Strack-Zimmermann wurde mit 71,7 Prozent gewählt, Schäffler kam nur auf 24,8 Prozent der Stimmen. Das war der Zeitpunkt, an dem Lindner wusste: Die FDP ist jetzt zwar in der Apo. Aber sie ist weiter eine rationale Partei und macht sich nicht auf den Weg Richtung radikaler Protestgruppierung. „Mit nur einem Zentimeter in Richtung der Euro-Hasser würden wir unsere Seele verlieren“, hatte Lindner gemahnt. Und der Parteitag war ihm gefolgt.

Er hat lange darauf hingearbeitet, dass es so kommt. Exakt 78 Tage, seit dem 22. September. Am Tag der Bundestagswahl entschloss sich Christian Lindner, 34, geboren in Wuppertal, aufgewachsen in Wermelskirchen, studierter Politikwissenschaftler und seit 17 Jahren politisch aktiv: Ich mache das jetzt. Ich übernehme die liberale Partei – jedenfalls das, was davon noch übrig geblieben ist.

Am Wahlsonntag um 15.50 Uhr informiert Christian Lindner seine engsten Mitarbeiter per SMS vom Ergebnis der ersten Nachwahlbefragungen. Alles deutet darauf hin, dass die FDP nach 64 Jahren erstmals nicht im Bundestag vertreten ist. Zwei Jahre zuvor hatte er sich noch für zu jung gehalten, den Job des FDP-Chefs zu übernehmen. Doch danach hat er mit seinen Ideen für die Partei eine Wahl gewonnen, im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen. Seine Entscheidung steht deshalb schnell fest. Allein aber geht es nicht. Gegen 21.30 Uhr setzt sich Lindner mit Wolfgang Kubicki aus Schleswig-Holstein zusammen. Der ist zwar unberechenbar, aber er ist auch einer der wenigen Liberalen, die wissen, wie man sich öffentlich Gehör verschafft. Der regelmäßig in Talkshows geladen wird. Die Marke FDP ist im Eimer, Kubicki ist eine eigene Marke. So einen braucht Lindner. Der Zweite, den er braucht, heißt Hermann Otto Solms. Der Hesse kennt die Parteifinanzen aus dem Effeff. Anfang Oktober stellt Lindner Nicola Beer als seine Kandidatin für das Amt der Generalsekretärin vor. Frank Schäffler würde gern das Thema Euro-Rettung betreuen, er hat seine Kandidatur für das Präsidium angekündigt. Lindner hat für die quasireligiöse Verehrung, die Schäffler und seine libertären Ökonomen wie Friedrich August Hayek entgegenbringen, wenig übrig. Er teilt Schäffler mit: Wenn du die Achse der Partei verschieben willst, musst du gegen mich als Parteichef antreten. Schäffler lehnt ab, er will nur ins Präsidium.

Den inhaltlichen Kurs der Mitte, den er skizziert, finden nicht alle gut

Doch für dieses Führungsteam hat Lindner andere Pläne. Neben der Generalsekretärin will er noch mehr Frauen. Er lässt durchklingen, dass ein Präsidiumsmitglied aus den Reihen der rund 5000 kommunalen Mandatsträger kommen soll. Er wird vor seiner Haustür fündig, in Düsseldorf: Dort ist Marie-Agnes Strack-Zimmermann Erste Bürgermeisterin.

Bei einem Treffen der FDP-Landesvorsitzenden in Berlin werden die Kandidaturen für den bevorstehenden Parteitag besprochen. Lindner macht klar, dass er auch die Hamburger Fraktionsvorsitzende Katja Suding im Präsidium dabeihaben will. Den inhaltlichen Kurs der Mitte, den er skizziert, finden nicht alle gut. Aus Sachsen kommt öffentliche Kritik. Apo, lässt der Landesvorsitzende Holger Zastrow wissen, sei „Machete statt Florett, Stammtisch statt Talkshow und Straße statt Feuilleton“. Lindner erkennt, dass es Zeit ist, seinen Kurs zu unterfüttern. Am 16. November stellt Lindners Generalsekretär in Düsseldorf, Marco Buschmann, intern eine Studie der Meinungsforscher von dimap vor. Die bescheinigt den Liberalen nach wie vor ein Wählerpotenzial im zweistelligen Prozentbereich. Dieses „FDP-affine“ Milieu habe an die liberale Partei klare Erwartungen, die Buschmann wie folgt beschreibt: Marktwirtschaft, aber kein „Laissez faire“. Finanzen, Steuern und Haushalt bleiben Kerngeschäft. Es ist mehr Engagement für Chancengerechtigkeit nötig. Schutz der Privatsphäre: Der Staat darf nicht alles!

Wenige Tage vor dem Treffen der über 600 Delegierten in Berlin gibt der Lindner-Kritiker Zastrow aus Sachsen seinen Verzicht auf eine Kandidatur bekannt. Weil im nächsten Jahr aber drei Landtagswahlen im Osten anstehen, will Lindner unbedingt einen Vertreter von dort dabeihaben. Er ermuntert den Thüringer Uwe Barth, sich zu bewerben. Der signalisiert Zustimmung.

Der Parteitag selbst verläuft dann eher unspektakulär. 78 Tage hat Lindner den politischen Konkurs der FDP quasi inoffiziell verwaltet, nun bekommt er offiziell den Auftrag, aus den Restbeständen wieder eine parlamentarische Kraft zu formen. Solms wird zum Schatzmeister gewählt, Beer zur Generalsekretärin. Seine drei Stellvertreter heißen Kubicki, Barth und Strack-Zimmermann. Schäffler spielt keine Rolle mehr. Lindner hat sein Wunschteam beisammen.

Der Rest ist Aufbruch. Lindner macht seiner Partei Mut, greift die Große Koalition an, unterstellt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Wortbruch in der Steuerpolitik. Für seine Partei hat er mahnende Botschaften: Erstens gelte es, Flügelkämpfe oder einen Rechtsruck zu verhindern – schöne Grüße an Schäffler und Zastrow. Und zweitens brauche es Geduld: Auf dem Weg zu einer Rückkehr in den Bundestag 2017 werde es Widerstände, Rückschläge und Enttäuschungen geben. Die Delegierten aber erwarten jetzt schnelle Ergebnisse von Lindner, schon bei den nächsten Wahlen. Die Jungen Liberalen bringen das auf den Punkt, per Twitter verbreiten sie ihren Auftrag an den neuen Chef. Er lautet: „Mal eben kurz die FDP retten!“