Experte für Altersvorsorge: Neue Leistungen für Mütter könnten große Belastung werden. Wegen der Milliarden-Reserven sollen Bezüge der Ruheständler steigen, Beiträge sinken

Hamburg. Den künftigen Rentnern in Deutschland geht es ähnlich wie Robinson Crusoe vor der Ankunft von Freitag auf seiner Insel. Was und wie viel fürs Alter zurücklegen, wenn man keine Früchte mehr sammeln, keine Tiere mehr erlegen kann? Hat man zu viel Reserven gehortet und stirbt früh, kann das ein Fehler gewesen sei. Denn man hätte sich womöglich im Leben zu sehr eingeschränkt und gespart. Sind die Reserven allerdings zu gering, muss man im Alter eventuell wieder für den Lebensunterhalt arbeiten. So funktioniert Sparen fürs Alter im Prinzip noch heute.

Deutschlands Renten-Papst, Prof. Bert Rürup, bringt gerne dieses Beispiel. Ungern drückt er die nackte Wahrheit krass aus: Denn Altersvorsorge und Rente sind vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft eine Wette auf den Tod. Was die Regierung von Helmut Kohl (CDU) nicht anpackte, musste Nachfolger Gerhard Schröder (SPD) lösen: das deutsche Rentensystem auf mehr private Vorsorge umstellen. Rürup, der ehemalige Chef der Wirtschaftsweisen, und Arbeitsminister Walter Riester (SPD) gaben der Mega-Reform ihre Namen. Für viele Bürger hat sich inzwischen die Riester-Rente als undurchschaubar erwiesen. Auch wenn es rund 15 Millionen Verträge und erhebliche staatliche Zuschüsse gibt, fehlt noch immer der lange von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) versprochene „Beipackzettel“.

Arbeitsministerium lässt neue Variante der Betriebsrente durchrechnen

Rürup sagt heute im Gespräch mit dem Abendblatt: „Inzwischen hat es sich gezeigt, dass es ein Fehler war, bei der Riester-Rente auf die Freiwilligkeit eines Abschlusses zu setzen. Wenn durch kapitalgedeckte Renten, seien sie privat oder betrieblich, Leistungsrücknahmen der gesetzlichen Rente ersetzt werden sollen, muss eine solche Ergänzung genauso obligatorisch sein wie die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung.“ Eine Riester-Pflicht habe der damalige Arbeitsminister tatsächlich gewollt. Es war aber nicht durchsetzbar. Rürup: „Länder wie die Schweiz, die Niederlande und Schweden zeigen, wie das geht.“

In den Koalitionsverhandlungen zwischen der Union und der SPD geht es jetzt um die Reformen, die von der Leyen nicht durchsetzen konnte: Mütterrente, Mindestrente, Beitragssatz. Die Union will Mütter mit Kindern, die vor 1992 geboren wurden, in der Rente besserstellen. Wegen der hohen Reserven der Rentenkasse würde Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) das Geld sogar direkt aus der Rentenkasse nehmen – und nicht über Bundeszuschüsse finanzieren wie bei solchen Leistungen üblich.

Die Rentenversicherung stemmt sich dagegen: „Würden die zusätzlichen Leistungen bei der Kindererziehung aus Beitragsmitteln und nicht aus Steuermitteln finanziert, dann würde dies zulasten der Nachhaltigkeitsrücklage gehen und diese schneller in Richtung Mindestrücklage sinken. Finanziert werden müsste die Ausweitung der Kinderziehungszeiten dann in der Folge über entsprechend höhere Beitragssätze“, sagte ein Sprecher dem Abendblatt. Das bedeutet: Die Reserven schmelzen dramatisch. Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssten wieder höhere Beiträge zahlen.

Auch Rürup warnt: „Wenn Frau Merkel sagt, die neue Mütterrente lasse sich aus der Rentenkasse finanzieren, ist das allenfalls die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass die Rentenversicherung über einen sehr langen Zeitraum mit knapp sieben Milliarden jährlich belastet würde. Dies entspricht deutlich mehr als einem halben Beitragspunkt.“

Am Dienstag legt die Rentenversicherung neue Zahlen vor. Dass die Rücklagen 28 Milliarden Euro sogar übertreffen werden, die Renten 2014 auch im Westen kräftiger als zuletzt ansteigen können – das gilt als ausgemacht. Also könnte der Beitrag von heute 18,9 Prozent vom Monatsbrutto vermutlich auf 18,4 Prozent sinken. Alle Prognosen der vergangenen Jahre waren von steigenden Beiträgen ausgegangen. Doch dieser extrem positive Trend birgt Tücken. Weil es noch keine Bundesregierung gibt, kann der neue Rentenbeitragssatz womöglich nicht fristgerecht bis Ende November festgelegt werden.

Und es gibt Streit darüber, ob die Reserven nicht doch weiter wachsen dürfen. Zurzeit muss bei einer Reserve vom 1,5-Fachen einer Monatsausgabe automatisch der Beitrag gesenkt werden. Gewerkschaften wollen dagegen eine „Demografie-Reserve“ in der Rentenkasse begründen. Beobachter warnen: Wenn irgendwo öffentliches Geld „herumliegt“, wächst die Begehrlichkeit der Politik.

Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat sowohl in der prallen Kranken- wie in der Rentenkasse die Bundeszuschüsse gekürzt, um seinen Haushalt zu sanieren. Arbeitnehmer und Unternehmen sind zu Recht sauer, dass sie nicht weiter entlastet werden.

Wirtschaftsforscher Rürup sagt diplomatisch: „Dank der erfreulichen Arbeitsmarktentwicklung ist die aktuelle finanzielle Situation der Rentenversicherung gut. Diese kurzfristige Situation darf allerdings nicht dazu verleiten, diese Gelder als Kriegskasse zur Finanzierung neuer dauerhafter Leistungen anzusehen.“ Er ergänzte: „Wenn es nach mir ginge, würde ich den Steuerzuschuss auf sichere Füße stellen. Der Anteil der Steuergelder an den Gesamteinnahmen sollte stabil und verlässlich sein und sich nicht an den jeweiligen haushaltspolitischen Erfordernissen oder Möglichkeiten des Bundes orientieren.“

Auch das verunsichert die Bürger, die auf ihren Ruhestand sparen. Wegen der niedrigen Zinsen erhalten Riester-Sparer nicht die Rendite, die ihnen beim Abschluss ihrer Policen versprochen worden waren. Wer sich eine Wohnung oder ein Haus als Sicherheit für die Rente zulegt, schläft nach Einschätzung der Postbank ruhiger. Aber: In Hamburg befürchtet man derzeit eine Immobilien-Blase, sprich: überhöhte Preise für Häuser und Wohnungen. Auch die Betriebsrente gewinnt neue Anhänger. Allerdings haben Unternehmen wie die Lufthansa und die Commerzbank angekündigt, die versprochenen Betriebsrenten zu kürzen. Und: In Hamburg klagten sogar ehemalige Gewerkschafts-Topleute gegen Ver.di, dass ihre Betriebsrenten nicht wie vereinbart erhöht wurden. Der Rechtsstreit geht jetzt in die zweite Instanz.

Dem Abendblatt liegt ein Papier des Arbeitsministeriums vor, in dem es die Rentenversicherung bittet, ein neues Modell durchzurechnen. So sollen Unternehmen für ihre Mitarbeiter freiwillig mehr in die gesetzliche Rente einzahlen – auch, um gute Arbeitskräfte anzulocken oder zu binden. Die neuen Beiträge könnten bis zur Hälfte der monatlichen Pflichtbeiträge betragen. Die Gesamtzahlung pro Monat dürfe aber insgesamt die Höchstgrenze von 1097 Euro nicht übersteigen. Dadurch hätten Arbeitnehmer später eine deutlich höhere Rente.

Wer 3000 Euro brutto verdient, würde also maximal bei der gesetzlichen Rente so berücksichtigt, als würde er 4500 Euro verdienen. Fraglich ist allerdings, warum nur der Arbeitgeber diese Extra-Zahlungen in die Rentenkasse leisten soll. Auch für Arbeitnehmer wäre das interessant, vor allem für kleine Selbstständige, die freiwillig versichert sind.