Die Verhandlungen zum Mord am Hamburger Gemüsehändler Süleyman Tasköprü zeigen, wie sehr der NSU-Prozess zwischen Nüchternheit und Emotionen schwankt.

München. Der Kriminalbeamte L. tippt mit dem Kugelschreiber auf das Foto, dass von einem Beamer an die Wand im Münchner Gerichtssaal A 101 gestrahlt wird. Für alle im Raum ist es sichtbar, für die Richter, die Anwälte, die Zuschauer auf der Tribüne. Das Foto zeigt Süleyman Tasköprü. Er liegt zur Seite gekrümmt auf dem Boden, im Hintergrund glitzert das Metall von einem Brotregal, der Vordergrund zeigt die geöffnete Schublade der Ladenkasse. Süleyman Tasköprü liege in einer Nische in dem Lebensmittelgeschäft hinter dem Tresen, sagt der Beamte. „Fast sieht es aus, als hätte jemand das Opfer in die stabile Seitenlage gelegt.“

Dann zeigt der Beamte L. vom Bundeskriminalamt ein zweites Foto. Tasköprü liegt in der Mitte im großen Raum des Geschäfts in der Schützenstraße in Hamburg-Bahrenfeld. Sein lebloser Körper ist in eine Decke gehüllt. Dies sei eines der ersten Fotos vom Tatort, das die Polizisten vor Ort zur Spurensicherung fotografiert hatten, sagt der Kriminalbeamte. Das bedeute: Das erste Foto, auf dem das Opfer noch eingezwängt in einer Ecke liege – es könne nur von den Tätern stammen. Das beweise der Vergleich der Fotos. Erst die Sanitäter hatten Tasköprü in die Mitte des Ladens gezogen.

Beide Fotos fanden die Beamten im November 2011 in der ausgebrannten Zwickauer Wohnung des mutmaßlichen rechtsterroristischen Trios NSU, Nationalsozialistischer Untergrund. Die Bilder des toten Tasköprü sind Teil eines Videos, das auf eine DVD gebrannt wurde. Der Film ist 15 Minuten lang, er gilt als Bekennervideo des Neonazi-Trios um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt.

Mit der Comicfigur Paulchen Panther würden die Macher der DVD die „Ceska-Mordserie“ als „Deutschland-Tour“ illustrieren, erklärt Beamter L., der an diesem Dienstag im NSU-Prozess als Zeuge geladen ist. Das Video des NSU zeigt Ausschnitte aus den Fernsehberichten nach den Morden, es zeigt Fahndungsplakate der Polizei und eben auch solche Polizeifotos, die in der Presse gedruckt wurden. Und das Video listet Propagandasätze des NSU auf. „Taten statt Worte“, zum Beispiel.

Diese DVD mit dem Video soll Zschäpe nach dem Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt 2011 noch an verschiedene Medien und Institutionen verschickt haben. Zschäpe ist Hauptangeklagte in diesem Verfahren. Zehn Morde aus rassistischen Motiven soll das Trio begangen haben, dazu zwei Bombenanschläge und mehrere Banküberfälle. Über Jahre blieb die Mordserie unentdeckt. Die Sicherheitsbehörden folgten falschen Verdächtigungen und begangen schwere Ermittlungsfehler. Auch in Hamburg.

Mord detailliert im Video dargestellt

Der Kriminalbeamte L. war im November 2011 einer der ersten Ermittler, der die DVD aus der Zwickauer Wohnung analysierte. Der Mord an Süleyman Tasköprü am 27. Juni 2001 ist einer von drei Morden, die in dem Video detailliert mit Fotos dargestellt werden. Mundlos und Böhnhardt sollen Tasköprü kaltblütig hingerichtet haben.

Der Auftritt des Kriminalbeamten L. ist einer der vielen Momente in einem der größten Prozesse der bundesdeutschen Geschichte, in dem Nüchternheit über Emotionen siegt. Es ist einer dieser Momente, in denen die Schilderungen in korrekter Polizeisprache ein Gegenbild zeichnen zu den Gefühlen, die die brutalen Fotos blutverschmierter Leichen auslösen, die Polizist L. zeigt. Seine sachlichen Erläuterungen setzen zugleich einen Kontrapunkt zu den perversen Comicfantasien, mit denen die Rechtsterroristen ihre Morde illustriert haben sollen.

Wer diesen Tag im Gerichtssaal verfolgt, erlebt eine Angeklagte Beate Zschäpe, die oft gelangweilt wirkt und mit beiden Händen an einem Kugelschreiber spielt. Ihren Laptop vor sich auf dem Tisch hat sie die gesamte Verhandlung über zugeklappt – als einzige der fünf Angeklagten. Manchmal schmunzelt sie, manchmal tuschelt sie mit ihren Anwälten. Meistens ist ihr Blick regungslos, nahezu glatt.

Doch der Prozess gegen Zschäpe und den NSU verläuft nicht in geraden, gleichförmigen Linien. Die Verhandlung ist nicht glatt. Sie ist geprägt von diesen Gegensätzen. Von Tag zu Tag im Saal des Gerichts schwankt die Stimmung von steriler Beweisaufnahme zu emotionalen Ausnahmesituationen. Eine dieser beklemmenden Ausnahmen erlebten Zuhörer, Anwälte und Richter vor zwei Wochen. Es war der erste Tag, an dem auch über den Hamburger Mordfall verhandelt wurde. Der Vater des Opfers, Ali Tasköprü, saß auf dem Zeugenstuhl, gebeugt, in dunklem Anzug. Seine Tochter und sein zweiter Sohn waren im Saal. „Er lag am Boden. Ich habe seinen Kopf auf den Schoß genommen und ihn am Gesicht berührt. Er wollte etwas sagen, konnte es aber nicht mehr. Er hat noch gelebt“, sagte der Vater. In manchen Momenten zitterte seine Stimme. „Was wollten diese Leute von meinem Sohn?“, fragt er. „Wir sind Menschen, die auf eigenen Füßen stehen. Wir lebten von unserem eigenen Geld, was wollten diese Leute von uns?“ Der Richter fragt ihn nach den Folgen des Mordes. „Sie haben mir mein Herz abgerissen.“

An diesem gestrigen Dienstag, dem 43. Verhandlungstag im NSU-Prozess, sind die Angehörigen von Süleyman Tasköprü nicht im Saal. Sie sind in Hamburg geblieben. Angereist ist Tanja H. Die blonde Frau Ende 30 war 2001 einer der ersten Zeugen am Tatort in der Schützenstraße. Doch erinnern kann sie sich offenbar kaum mehr an irgendetwas. Nicht an den sterbenden Sohn in den Armen seines Vaters, nicht an die Schreie des Vaters: „Allah! Allah! Hilfe! Schnell!“ Erst als Richter Manfred Götzl ihr die eigenen Aussagen aus den Protokollen der Hamburger Polizei vorliest, kommen die wenigen Erinnerungen zurück. Wenig werden die Anwälte der Angeklagten, aber auch der Bundesgeneralanwaltschaft und der Nebenklage mit Zeugen wie Tanja H. anfangen können. Nach wenigen Minuten ist die Befragung beendet. Richter Götzl entlässt sie aus dem Saal.

„Im Stadion riefen alle: Zick-zack-Kanakenpack“

An Spannung gewinnt der Prozess an diesem Tag, als der Zeuge Thomas D. den Saal betritt. Erst eine Woche zuvor hatte eine Nachbarin von D. vor Gericht in München ausgesagt, sie hätte Mundlos, Böhnhardt und auch Zschäpe im April 2006 im Garten von D. in seiner Dortmunder Wohnung gesehen. D. streitet dies ab, genauso wie es kurz darauf seine Frau tun wird. Er kenne das Trio nur aus Fernsehberichten. Bei der Beobachtung der Nachbarin müsse es sich um eine Verwechslung handeln. Seine Frau sehe Zschäpe schließlich ähnlich. Auch sein Neffe und sein Schwager seien in der Zeit zu Besuch gewesen, sagt Thomas D. Das könne alles erklären. Und überhaupt: Rechtsextrem sei er selbst auch nicht. Seine Kinder tragen zwar germanische Namen wie Odin und Thor, ein Geschäftspartner und Freund kämpft für die Freiheit des mutmaßlichen NSU-Unterstützers Ralf Wohlleben, und D. saß beim Fußball gerne bei den rechtsradikalen Fans der „Borussenfront“ in Dortmund. Aber das sei doch nicht rechts. „Im Stadion riefen alle: Zick-zack-Kanakenpack“, sagt Thomas D. Er kann offenkundig bis heute nichts Anstößiges daran finden.

Die Aussagen der Nachbarin waren brisant: Kurz nach der Beobachtung verübte der NSU zwei Morde an Migranten in Dortmund und Kassel. Es gibt bislang keinen Beleg dafür, dass sich Zschäpe bei einem der zehn NSU-Morde in Tatortnähe befand. Doch mit der Befragung von Thomas D. und seiner Ehefrau scheint dieser Hinweis vorerst in einer Sackgasse zu enden. Stichhaltige Hinweise darauf, dass Zschäpe gemeinsam mit den Männern des Trios in Dortmund war, lieferte die Vernehmung nicht. Was bleibt, sind Eindrücke: die fast unerträglichen Momente, in denen die Fotos des toten Tasköprü an der Wand im Gerichtssaal flackern, der nüchterne Ton des Beamten dazu – und ein kleiner, stämmiger Mann, der am Schimpfwort „Kanakenpack“ nichts Ausländerfeindliches findet.