Die Bundestagswahlkreise am Rand der Hansestadt sind derzeit fest in CDU-Hand. Die Sozialdemokraten hoffen auf Schützenhilfe von Olaf Scholz.

Kiel. Hamburgs nördlicher Rand ist schwarz. Alle drei schleswig-holsteinischen Bundestagswahlkreise im Norden der Hansestadt gingen 2005 und 2009 an die Christdemokraten. Die spannende Frage für den Wahltag am 22. September lautet: Bleibt das so? Oder macht die SPD Boden gut?

Für den CDU-Landesvorsitzenden Reimer Böge ist klar: „Wir können alle elf Wahlkreise in Schleswig-Holstein gewinnen. Am Hamburger Rand ist keiner in Gefahr.“ Ralf Stegner, der SPD-Landesvorsitzende, hält dagegen: „Ich bin verhalten optimistisch, dass die gute Arbeit, die Olaf Scholz in Hamburg macht, auch auf den Süden Schleswig-Holsteins ausstrahlt.“

Bei solchen Aussagen ist in diesen Tagen viel Gefühl und wenig gesichertes Wissen im Spiel. Zwar gibt es bundesweite Umfrageergebnisse zum Ausgang der Bundestagswahl. Das Abstimmungsverhalten in den einzelnen Bundesländern ist allerdings nicht Gegenstand solcher Umfragen. Insofern lautet der Befund vor Ort: Niemand weiß momentan, wie die Wahl in Schleswig-Holstein ausgehen wird. „Selbst die Zahlen auf Bundesebene sind ja eigentlich wenig aussagekräftig“, sagt Wilhelm Knelangen, Politikwissenschaftler an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. „Zu viele Wähler sind noch unentschieden.“

Das dürfte auch in Schleswig-Holstein so sein. Aber wo wohnen diese Wähler? Und wie kann man sie davon überzeugen, in gut anderthalb Wochen ins Wahllokal zu gehen? Und dort auch noch das Kreuz beim „richtigen“ Kandidaten zu machen? Überraschenderweise ist den meisten Parteien ein derart systematisches Herangehen an Stimmenwerbung fremd. „Zielgerichtete Werbung ist in Deutschland im Vergleich zu den USA unterentwickelt“, sagt der Politikwissenschaftler Knelangen. „Wahlkampf wird häufig einfach dort gemacht, wo die Parteien personelle Ressourcen haben.“ Deshalb gebe es gerade in dünn besiedelten Gegenden Schleswig-Holsteins viele Orte, in denen in dieser Hinsicht nichts geschehe. „Da können Sie lange fahren und sehen nicht ein Wahlplakat“, hat Knelangen beobachtet. Dabei gebe es durchaus Informationen, die den Wahlkampf vereinfachen und ein gezielteres Vorgehen möglich machen würden. „Diese Daten müssten dann allerdings für viel Geld beschafft werden“, wendet der SPD-Landeschef Ralf Stegner ein.

Und so geht Stimmenwerbung auch im Computerzeitalter immer noch ein bisschen wie vor 20 Jahren. Beispiele gefällig? Ole Schröder, der CDU-Kandidat im Wahlkreis Pinneberg, wird sich am 13. September zur Eröffnung der Holsteiner Apfeltage im Jägerkrug in Haselau einfinden. Sein SPD-Kontrahent Ernst Dieter Rossmann wird am selben Tag vor einem Edeka-Markt in Elmshorn stehen. Alles wie gehabt also?

Nicht ganz. Beide Parteien operieren verstärkt mit Hausbesuchen. Die SPD geht diese Besuche sogar mit Datenunterstützung an. „Wir konzentrieren uns auf Gebiete mit zuletzt niedriger Wahlbeteiligung und starker SPD-Wählerschaft“, sagt SPD-Landeschef Ralf Stegner. Elke Schreiber, die Leiterin der SPD-Kampagne im Kreis Pinneberg, hat knapp 50 Parteigenossen an der Hand, die meist nachmittags und am frühen Abend an den Haustüren klingeln. Bei der SPD sind diese Hausbesuche eine zentrale Vorgabe, bei der CDU nicht. „Die Kandidaten entscheiden selbst, wie sie um Stimmen werben“, sagt der CDU-Landeschef Reimer Böge. Karla Fock, Geschäftsführerin der CDU im Kreis Pinneberg, ergänzt: „Wir machen hier klassischen Wahlkampf. Hausbesuche gehören auch dazu, aber Statistikdaten haben wir nicht.“

Im Wahlkreis Pinneberg geht es am Wahlabend nicht nur um das Endergebnis, sondern auch um einen Ruf, der zu verteidigen ist. Seit Jahrzehnten gewinnt dort immer der Kandidat der Partei, die dann auch den Bundeskanzler stellt. Wahlforscher vermuten, dass das mit der Bevölkerungsstruktur zu tun hat. „Die soziostrukturellen Daten sind ähnlich wie im gesamten Bundesgebiet“, sagt der Politikwissenschaftler Wilhelm Knelangen. Tatsache ist, dass der Wahlkreis seit 1953 jeden Regierungswechsel in der Bundeshauptstadt mit vollzogen hat. Zuletzt im Jahr 2005, als Angela Merkel (CDU) ihren Kontrahenten Gerhard Schröder (SPD) aus dem Kanzleramt drängte – und in Pinneberg Ole Schröder (CDU) seinem Gegenspieler Ernst Dieter Rossmann (SPD) das Direktmandat abnahm.

Wer auch immer in Pinneberg siegt: Alle Parteien in Schleswig-Holstein wollen die Zahl ihrer Bundestagsabgeordneten vergrößern oder zumindest halten. Die kleineren Parteien, die kaum eine Chance haben, in einem der elf Wahlkreise das Direktmandat zu gewinnen, kämpfen um die Zweitstimme. Am schwierigsten ist die Lage für die FDP. 2009 bekam sie in Schleswig-Holstein 16,3 Prozent der Zweitstimmen – ein Ausreißer nach oben, der kaum zu wiederholen ist. In Umfragen liegt sie derzeit bundesweit bei sechs Prozent. Wolfgang Kubicki, der Spitzenkandidat, rechnet mit etwas mehr als zehn Prozent. Von den vier Bundestagsabgeordneten, die Schleswig-Holsteins Liberale derzeit noch haben, könnte da einer verloren gehen. „Wir wollen mindestens drei Abgeordnete stellen“, sagt FDP-Landeschef Heiner Garg.

Die Grünen haben drei – und wollen mehr. „Wir wollen fünf bekommen“, sagt Ruth Kastner, die Landesvorsitzende. Ihre Hoffnung beruht nicht auf einer deutlichen Steigerung des Zweitstimmenanteils (2009 waren es 12,7 Prozent), sondern auf Änderungen im Wahlgesetz. Danach müssen Überhangmandate voll ausgeglichen werden.

Kaum einzuschätzen ist das Abschneiden der Linken. Im vergangenen Jahr sind sie aus dem Landtag geflogen, seitdem sind sie in der politischen Öffentlichkeit kaum mehr präsent. Bei Umfragen im Bund kommen sie derzeit auf etwa neun Prozent. Bei der Wahl 2009 landeten die schleswig-holsteinischen Linken bei 7,9 Prozent der Zweitstimmen, was ihnen zwei Bundestagsabgeordnete einbrachte.

Die beiden Großen blicken auf die Erst- und auf die Zweitstimme. Die CDU (derzeit neun Bundestagsabgeordnete) hat 2009 neun von elf Wahlkreisen direkt gewonnen, für die SPD (derzeit sechs Bundestagsabgeordnete) blieben nur die Wahlkreise in Lübeck und Kiel. Die CDU will diesmal auch dort punkten. Die SPD setzt ihre Hoffnungen unter anderem auf den Hamburger Rand. Landeschef Stegner sagt: „Unsere Kandidatin Nina Scheer ist im Wahlkreis Stormarn-Süd/Herzogtum Lauenburg sicher auch für Grüne mit der Erststimme wählbar.“ Ruth Kastner, Landesvorsitzende der Grünen, hält davon gar nichts: „Das ist nicht unsere Empfehlung. Wir haben mit Konstantin von Notz einen hervorragenden Kandidaten, der ist nicht irgendwie implementiert worden wie Frau Scheer.“ Nina Scheer, die Tochter des verstorbenen SPD-Linken Hermann Scheer, ist ursprünglich Berlinerin und erst seit Kurzem im Norden aktiv.

Auch bei den Zweitstimmen lagen die Christdemokraten 2009 deutlich vor den Sozialdemokraten: 32,2 zu 26,8 Prozent. Böge glaubt: „Wir werden diesmal bei 38 Prozent landen.“ Stegner glaubt: „Wir werden über dem Bundesergebnis für die SPD liegen.“ Ihm ist aber auch klar: „Man wird sich von diesem Ergebnis nicht kosmisch weit entfernen können.“ Am 22. September wissen wir, wen die Wähler auf welche Umlaufbahn schießen.