Im Zug zur Macht: Der Hamburger CDU-Spitzenkandidat Marcus Weinberg über seinen Zugang zur Politik, Gestaltungsmöglichkeiten und Großstadtparteien.

Hamburg. Der Montagmorgen ist verregnet, es ist 7.45 Uhr. Menschen strömen durch den Altonaer Bahnhof – vom Nahverkehr zur S-Bahn, von der S-Bahn zum Ausgang. Marcus Weinberg, im dunklen Anzug unter einer regennassen Outdoor-Jacke, ist auf dem Weg nach Berlin. Um 10 Uhr beginnt die Bundesvorstandssitzung der CDU. Doch bevor er zur Bahn läuft, biegt Weinberg kurz noch in den Zeitschriftenladen ab. Schnell den „Kicker“ kaufen. Schließlich muss er wissen, wie die fiktive Mannschaft, die er sich beim Tipp-Spiel mit seiner Spielgemeinschaft zusammengekauft hat, nach diesem Fußball-Wochenende dasteht. Weinbergs eigenes Herz schlägt für den FC St. Pauli. Nur ungern verpasst der Altonaer ein Spiel. Jetzt, im Wahlkampf, ist das schwierig.

Als der ICE 1708 auf Gleis 8 einrollt, trifft Weinberg die ersten Bekannten. Es ist eine lose, aber vertraute Gemeinschaft, die regelmäßig den Zug nach Berlin nimmt – Abgeordnete, Behördenmitarbeiter, Manager, meist montags früh, wenn die Arbeits- und Sitzungswoche in der Hauptstadt beginnt, oder spätestens am Dienstag. Heute frotzelt man noch über das Duell Merkel – Steinbrück am Vorabend, als der Zug einrollt. Weinberg sucht sich einen Platz in der 1. Klasse.

Locker 100- bis 150-mal ist er in dieser Legislaturperiode per Bahn nach Berlin gereist und das Gleiche wieder retour. Manchmal kommt er während der Sitzungswoche für eine Nacht nach Hamburg zurück, um bei seiner Familie zu sein. Und auch wenn die Trennung von seinem dreijährigen Sohn Emil beiden an manchem Montagmorgen schwer fällt: Weinberg möchte auch in den kommenden vier Jahren regelmäßig im Zug nach Berlin sitzen. Als Spitzenkandidat der Hamburger CDU und Wahlkreiskandidat in Altona bewirbt sich der 46 Jahre alte Bildungsexperte am 22. September um seine Wiederwahl.

Warum wollen Sie wieder an die Macht, Herr Weinberg?

Ich will nicht an die Macht. Macht oder Herrschaft sind im parlamentarischen System die falschen Kategorien. Ich will Verantwortung übernehmen und dabei in vielen Bereichen Verbesserungen hinbekommen. In Berlin geht es – anders als manchmal in Hamburg – fast ausschließlich um grundsätzliche Positionen und Inhalte. Da wird mit Leidenschaft und Grundüberzeugung diskutiert. Etwas bewegt und verbessert zu haben, ist dann ein sehr befriedigendes Gefühl.

Was können Sie denn bewegen?

Zwei Dinge möchte ich in den kommenden vier Jahren auf jeden Fall hinbekommen: einen Qualitätsgipfel für den Bereich der Kindertagesbetreuung. Den Platzausbau haben wir geschafft, jetzt müssen wir uns intensiv über die Qualitätssteigerung unterhalten, so zum Beispiel über die Erzieherausbildung und die Größe der Gruppen. Wir sollten Bund, Länder und Kommunen noch einmal zusammenbringen und höhere Standards für Krippen verlässlich vereinbaren, die wir bis 2017 gemeinsam umsetzen.

Da gibt es noch Luft nach oben.

Auf jeden Fall. Ich habe mir ein zweites vorgenommen: Wir brauchen auf nationaler Ebene einen verbindlichen Bildungspakt mit den Ländern im Rahmen des Föderalismus. Bildung und Infrastruktur sind die beiden nationalen Aufgaben der nächsten Jahre. Dieses meint die Ausbildung des Fachpersonals, den Zustand der Räume oder die Betreuungsfrage. Es sollte bundesweit einen Rechtsanspruch auf eine hochwertige Ganztagsbetreuung an Schulen geben. Damit meine ich auch etwas qualitativ Besseres als die momentane ganztägige Betreuung an Hamburgs Schulen. Wir sollten einen Bildungspakt hinbekommen, der ab 2017 oder 2020 allen Eltern und Kindern einen Rechtsanspruch auf eine solch hochwertige ganztägige Betreuung garantiert. Natürlich nur für die, die wollen. Ich bin gegen Zwang. Aber es ist doch ein Widerspruch, dass wir Krippen- und Kita-Kindern ein gutes Angebot auch am Nachmittag machen, aber wenn sie in die Schule kommen, diese guten Nachmittagsangebote enden.

Weinberg geht ins Bordrestaurant und bestellt einen Kaffee. Koffein tut jetzt gut. Der Zug steht immer noch im Bahnhof. Er hat schon eine Viertelstunde Verspätung. Die Bildungs- und Familienpolitik ist im Bundestag das Feld des 46-Jährigen, der bis 2005 an der katholischen St. Bonifatiusschule in Wilhelmsburg als Lehrer gearbeitet hat. Sie war auch in Hamburg schon sein Fachgebiet, allerdings nicht ohne Fallstricke. Sein engagiertes Eintreten für die Primarschulreform des schwarz-grünen Senats, die schließlich von den Bürgern beim Volksentscheid gekippt wurde, hat ihm bei der Bundestagswahl vor vier Jahren nicht gerade geholfen. Lange stand es am Wahlabend auf der Kippe, ob Weinberg ein Mandat gewinnen würde. Doch inzwischen ist dieses Thema weitgehend in den Hintergrund getreten, glaubt er.

Schließlich ist er heute nicht nur Bundestagsabgeordneter, sondern auch Landesvorsitzender der CDU in Hamburg. Dieses Amt hat ihm zwar die Spitzenkandidatur gesichert, ist ansonsten aber nicht unbedingt vergnügungssteuerpflichtig. Nach der vernichtenden Niederlage bei der Bürgerschaftswahl 2011 ist bei den Christdemokraten viel Aufbauarbeit zu leisten – personell, programmatisch und auch finanziell. Die Talsohle ist durchschritten, glaubt Weinberg. Selbstbewusst hat er 30 Prozent als Zielmarke für die CDU in Hamburg bei dieser Bundestagswahl ausgegeben, 32 Prozent wären ein Spitzenergebnis – und psychologisch wichtig. Es würde zeigen, dass die CDU immer noch das Potenzial hat, Stimmen in dieser Größenordnung in Hamburg einzufahren. Mit Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) wollte Weinberg schon mal um einen Kasten Bier wetten, dass die SPD es nicht schafft, wie von Scholz angekündigt, alle sechs Wahlkreise in der Hansestadt zu gewinnen. Der Bürgermeister ist nicht auf die Wette eingegangen.

Als der Zug endlich über die Alsterbrücken rollt, hat er eine halbe Stunde Verspätung. Die CDU-Vorstandssitzung noch pünktlich zu erreichen, wird schwer. Weinberg bestellt seinen zweiten Kaffee. Am Nachbartisch wird über das Merkel-Steinbrück-Duell diskutiert. Weinberg findet, die Kanzlerin hat eine gute Figur gemacht.

Spötter bezeichnet die Bundesregierung als Gurkentruppe. Ist es angesichts des vielen Streits in der Koalition nicht manchmal unbefriedigend, da mitzumischen?

Nein, die Ergebnisse unterm Strich stimmen nach vier Jahren. Zugegeben: In den ersten zwei Jahren war es insbesondere schwierig mit der FDP. Wir sind als Volkspartei thematisch breiter aufgestellt als sie und zielen nicht auf ein besonderes Klientel. In den vergangenen zwei Jahren funktionierte das aber sehr viel besser. Und die Wahrheit ist doch, dass es dem Land gut geht. Arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitisch ist Deutschland Spitze. Und denken Sie nur an den Krippenausbau, der wäre vor zehn Jahren undenkbar gewesen. Beim Bundesfreiwilligendienst haben viele geglaubt, das werde nichts, es gebe keine Nachfrage. Das Gegenteil ist der Fall. In Bildung und Forschung haben wir zusätzlich 13,7 Milliarden Euro gesteckt.

Sind Sie auch ein überzeugter Fan des Betreuungsgeldes?

Anfangs war ich skeptisch, und man hätte es etwas anders gestalten können. Ich wäre beispielsweise dafür gewesen, die Zahlung an die Wahrnehmung der medizinischen U-Vorsorgetermine für Kinder zu koppeln und es insgesamt flexibler zu gestalten. Aber je mehr das Betreuungsgeld undifferenziert als Herdprämie diffamiert wird, desto mehr bin ich überzeugt, dass es der richtige Weg ist, um Familien die Wahlfreiheit zu geben, wie sie mit ihren Kindern leben wollen. Mit Begriffen wie Rabenmutter und Herdprämie verunglimpft man verschiedene Lebensentwürfe von Familien.

Weinberg ist in Altona-Altstadt aufgewachsen, nahe der Neuen Großen Bergstraße. Daher habe er seinen „christlich-sozialen Touch“, sagt er. Der Wahlkreis Altona, den er erobern will, ist für die CDU kein einfacher – manche sagen: der zweitschwerste nach Mitte. Weinberg ist derzeit viel mit einem Piaggio Ape, einem Dreirad-Minitransporter unterwegs, der sein Konterfei trägt – ein kultiges Wahlkampf-Mobil mit einem Sofa auf der Ladefläche, das man auf Märkten und Plätzen abladen kann, um mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen. Am Spritzenplatz in Ottensen lümmeln sich die Punks auf dem Sofa, in Othmarschen und Groß Flottbek wird Weinberg mit Handschlag begrüßt. Er ist für beide Seiten seines Wahlkreises offen. Schließlich ist er für einen Konservativen eher unkonventionell: Lebt mit der Mutter seines Sohnes zusammen ohne Trauschein, hat kein Auto, sondern fährt Roller und nutzt Carsharing. Mit dem Abgeordneten Matthias Zimmer aus Frankfurt und anderen hat er vergangenes Jahr ein Strategiepapier zur Frage entworfen, wie die CDU ein aufgeschlossen, liberales, leistungsorientiertes städtisches Bürgertum erreichen kann.

Wird das Strategiepapier nun umgesetzt?

Es gibt in Großstädten einen anderen Zugang der Menschen zu anderen Themen, sei es zu Mobilität, Umwelt- und Naturschutz oder Kinderbetreuung. Das müssen wir in konkreten Politikentwürfen abbilden, ohne sofort infrage zu stellen, ob wir eigentlich noch konservativ sind. Die CDU kann Großstadt, das hat Ole von Beust mit dem Konzept der Wachsenden Stadt gezeigt. Nach der Wahl trifft sich die Gruppe der Großstädter erneut. Dann gilt es zu überlegen, welche Strategie wir aus dem Positionspapier und den Wahlergebnissen ableiten. Das Thema Großstadtausrichtung wird nach der Wahl diskutiert werden müssen.

Für die Politik entflammte CDU-Mann Weinberg ausgerechnet durch den SPD-Kanzler Helmut Schmidt. Der war Kabinettchef, als Weinberg zur Grundschule ging, und wurde von ihm „glühend verehrt“. Da der Schüler Marcus eigentlich um acht Uhr ins Bett musste, handelte er mit seiner Mutter – um mehr Zeit zu schinden – aus, dass er noch die Tagesschau sehen durfte. So schlief er mit dem Gedanken an Politik und Helmut Schmidt ein. Politisiert wurde Weinberg auch durch die eigene Familiengeschichte. Weil die Hälfte seiner Verwandtschaft in der DDR wohnte, fuhr er regelmäßig zum Besuch der Großeltern dorthin und lernte, das Regime zu verabscheuen. Kein Thema bewegte ihn so sehr wie die erstrebte Wiedervereinigung und die Ablehnung der SED-Herrschaft. So war er ein leidenschaftlicher Verfechter der Nato-Nachrüstung – und eben Helmut Schmidts. Als der bei diesem Thema in der SPD zusehends ins Abseits geriet, wanderten Weinbergs Sympathien von Schmidt zu Helmut Kohl und der CDU.

Im Zugrestaurant trinkt er noch einen Kaffee, es ist sein dritter – jetzt ist er wach. Dirk Fischer kommt den Gang entlang, auch er ist auf dem Weg nach Berlin. Der frühere CDU-Landesvorsitzende sitzt seit 30 Jahren im Bundestag und tritt noch einmal an. Die beiden Politiker stimmen Termine ab. Fischer beschwert sich, weil Weinberg das Spiel der Fußballmannschaft FC Bundestag am Abend abgesagt hat. Weinberg ist Kapitän der Polit-Kicker, darauf ist er stolz. Heute wäre Fischers 400. Spiel für das Team gewesen. „Du wolltest nur keine Urkunde vorbereiten“, frotzelt Fischer. Termine am Abend, verteidigt sich Weinberg. Das Spiel wird nachgeholt. Der Zug rollt im Berliner Hauptbahnhof ein. Die Bundesvorstandssitzung hat längst begonnen. Weinberg hastet von den Gleisen die Treppe hinauf. Die Berliner Woche beginnt.