Von Barschel bis Guttenberg: Wenn Regierende der Lüge überführt werden, stürzen sie. Doch die Unwahrheit kann auch ein politisches Gebot sein

Hamburg. Ganz am Ende rollt ein Lachen durch den Saal des Metropolis-Kinos neben der Hamburger Staatsoper. In den 45 Minuten zuvor hat ein Dokumentarfilm des NDR durch die Skandale der Bonner und Berliner Republik geführt. Es ging um das Plagiat des Herrn zu Guttenberg, um die Spitzel-Affäre des Uwe Barschel und um versprochene Steuersenkungen, die nie vollzogen wurden. Auf der Kinoleinwand flackerten kurz auch Nixons Watergate-Affäre und Bill Clintons Verhältnis zu seiner Praktikantin auf, dann ging es wieder um Helmut Kohls anonyme Spender und Christian Wulffs Geschenke von Unternehmer-Freunden.

Der Film erzählte eine Dreiviertelstunde von den Lügen, Täuschungen und Halbwahrheiten in der Politik. Jetzt, in der Schlusskurve des Berichts, stellen die Reporter ihren Gesprächspartnern eine nicht unwichtige Frage: Haben Sie in Ihrem Amt schon einmal die Unwahrheit gesagt? „Da wüsste ich mich nicht dran zu erinnern“, sagt der frühere FDP-Chef Wolfgang Gerhardt. „Nicht, dass ich wüsste“, sagt die ehemalige Justizministerin Brigitte Zypries. „Nein“, sagt Ex-CDU-Generalsekretär Heiner Geißler. Manche Zuschauer im Saal lachen laut, einige schmunzeln, andere schütteln den Kopf. Niemand glaubt es den Politikern. Der Zuschauer denkt: Die lügen doch!

Kurz vor dieser letzten Frage zeigte der Film eine Umfrage: Nur elf Prozent der Bürger vertrauen Aussagen von Politikern im Wahlkampf. 89 Prozent schenken deren Worte wenig oder gar keinen Glauben. Es ist wieder Wahlkampf, noch knapp zwei Monate bis zur Entscheidung – und es scheint, als manifestiere sich ein kollektiver Vertrauensverlust der Wähler in die Politik.

Wer Freunde belügt, verliert sie. Wer in seiner Familie nicht ehrlich ist, täuscht gerade die Menschen, die einem mit Ratschlägen und Geborgenheit zur Seite stehen sollen. Ehrlichkeit, es ist ein bürgerlicher Wert – eine Moralvorstellung der heutigen Demokratien, die ihre Säulen im Christentum hat: Du sollst nicht lügen, das achte Gebot. Gilt das für die Politik nicht? Gibt es Ausnahmen für einen Betrieb, in dem Medien und Opposition permanenten Druck ausüben? Gelten andere Regeln zwischen Fraktionszwang, Wahlkampf und Diplomatie? Oder sind Lügen und Halbwahrheiten manchmal sogar notwendig, um die Bürger zu schützen?

Zwischen diesen Fragen bewegt sich die Debatte um Wahlkampf und Werte – das ist keine neue Diskussion, aber sie ist wichtiger denn je. Denn die Skandalisierung nimmt zu, in den Medien, durch die Opposition. Zugleich wächst die Transparenz: durch die Medien und Blogs, auch durch etablierte Institutionen wie einen Untersuchungsausschuss. Allein derzeit laufen vier solcher Ausschüsse im Bundestag.

Und: Das politische Leben ist schneller geworden – durch Online-Nachrichten, durch Twitter und Handyfotos, die im Internet im Nu kursieren. Politiker müssen schneller reagieren, sie haben weniger Zeit, die Konsequenzen ihrer Antworten zu durchdenken. Aber rechtfertigt das eine Lüge?

„Für einen Politiker ist es immer ein politisches Todesurteil, wenn sie oder er etwas nachprüfbar Unwahres aussagt“, sagt Christian von Boetticher im Gespräch mit dem Abendblatt. Zum einen komme die Wahrheit früher oder später sowieso ans Licht und bedeute dann nicht selten einen so starken Imageschaden, dass dieser auch zum Verlust des Postens führen könne. „Zum anderen macht sich der Politiker, der lügt, immer in den eigenen Reihen dauerhaft erpressbar. Denn Mitwisser gibt es immer." Von Boetticher war bis 2011 Landeschef und Spitzenkandidat der CDU in Schleswig-Holstein. Er trat in einer Pressekonferenz unter Tränen zurück, als seine Beziehung zu einer Minderjährigen an die Öffentlichkeit kam. Heute sagt er über damals: „Ich habe die Wahrheit gesagt. Und das war am Ende auch die richtige Entscheidung, auch wenn es vielleicht meinen Rücktritt beschleunigt hat.“

Politiker werden pauschal als Lügner geschmäht – es gibt eine Sippenhaft

Selten sind es politische Fehlentscheidungen, die Minister zum Ende der Karriere zwingen. Es sind meist persönliche Verfehlungen: Moral wiegt schwerer als Inhalte, so scheint es jedenfalls. Womöglich hätte Guttenberg nie als Verteidigungsminister zurücktreten müssen, wenn er gleich zu Beginn das Plagiat zugegeben hätte, sagt der langjährige Grünen-Abgeordnete im Bundestag, Hans-Christian Ströbele, dem Abendblatt. Stattdessen leugnete Karl-Theodor zu Guttenberg, dass er seine Doktorarbeit in großen Teilen abgeschrieben hatte. Im Dokumentarfilm des NDR sagt Ströbele: „Der Beruf des Politikers genießt in den Umfragen das geringste Vertrauen. Und ich denke, die Bevölkerung hat recht.“

Plagiatsfälle wie bei Guttenberg oder die Causa Wulff würden das Vertrauen der Bürger in die Politik belasten, sagt die Hamburger Bürgerschaftspräsidenten Carola Veit (SPD). „Da gilt dann fast Sippenhaft. Die Partei spielt keine Rolle. Immer wieder hört man den Vorwurf: ,Ihr sagt ja sowieso nicht die Wahrheit.’“ Doch kann eine Unwahrheit sogar politisch richtig sein, wenn sie eben diese Bürger schützt?

An einem Sonntag im Herbst 2008 traten Kanzlerin Angela Merkel und der damalige Finanzminister Peer Steinbrück vor die Kameras der versammelten Hauptstadt-Journalisten. Die Welt wurde gerade durchgeschüttelt von der ersten Wucht der Finanzkrise, gerade meldete die US-Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz an. Die Hypo Real Estate stand kurz vor der Pleite. Merkel sprach dann den denkwürdigen Satz in die Mikrofone: „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind.“ Steinbrück sagte später, es habe in Deutschland Hinweise gegeben, dass Kunden ihr Geld abheben und deshalb 500-Euro-Scheine knapp werden würden. Und die Krise hätte sich verschärft.

„Die Aussage von Merkel und Steinbrück darüber, dass die Einlagen sicher sind, war richtig“, sagt von Boetticher heute. Es sei zwar rechtlich gesehen gar nicht möglich, eine Garantie auszusprechen. Es habe sich daher viel mehr um eine „politische Aussage“ gehandelt, die den Märkten und den Menschen Sicherheit gegeben habe. „Hier war die Kanzlerin aus politischer Verantwortung gezwungen, eine solche Behauptung aufzustellen: Denn die Folgen wären verheerend gewesen. So aber blieb der Bankensektor stabil“, sagt von Boetticher.

Die Komplexität der Krisen drängt Politiker in Unwahrheiten

Unwahrheiten als Schutz für Märkte und Menschen? Auch der Kieler FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki sagt im Gespräch mit dem Abendblatt, dass ein Politiker nicht immer die Wahrheit sagen könne. Merkel und Steinbrück sei es darum gegangen, Verantwortung für das Gemeinwohl zu tragen. Die Wahrheit hätte der Gemeinschaft geschadet, sagt er. Und nennt noch ein Beispiel: Geheimdienste. „Wenn Sie alles offenlegen, wen BND und Verfassungsschutz überwachen und mit welchen Mitteln, könnten Sie die Dienste gleich ganz einstellen.“

Die Wahrheit – sie ist nicht immer das Beste für Deutschland. So sehen es Politiker wie von Boetticher und Kubicki. Auch Carola Veit sagt: „Es mag extreme Ausnahmesituationen geben, in denen zugunsten der Sache abzuwägen ist, ob es besser ist, nicht alles zu sagen, was man weiß.“ So sah es 2011 auch Jean-Claude Juncker, als der Vorsitzende der Euro-Gruppe eine Krisensitzung zum möglichen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone dementierte, obwohl sie stattfand. Im Sinne der wirtschaftlichen Stabilität Europas, wie er heute sagt. Denn die Märkte hätten auf Austrittsgerüchte empfindlich reagiert. Adressat der Unwahrheit ist nicht der Bürger, sondern die Börse. Nur der Markt wird belogen.

Oder schieben die Politiker einen Schutz des Gemeinwohls nur vor – aus Bequemlichkeit, aus Angst vor dem Karriereknick? Oder weil sie den Konflikt vielleicht gar nicht genau durchblicken? Vor allem darin sieht Kubicki das Problem: „Die Wähler haben das Vertrauen in die Kompetenz ihrer Abgeordneten verloren.“ Zu oft gehe es nur noch darum, welche persönlichen Fehltritte ein Minister sich leiste und weniger darum, eine politische Krise zu lösen. „Es ist ja auch viel einfacher und wirksamer, einen Politiker als Lügner zu entlarven.“ Das Problem verschwinde dadurch jedoch nicht, sagt Kubicki. Aber vielleicht ein unliebsamer Gegner.

Die Komplexität der Krise und der Kampf um Macht – sie drängen Politiker in Unwahrheiten. Oft fehlt der Mut zum Schweigen, wenn Opposition, Märkte und Medien Druck ausüben. „Lieber nichts sagen als die Unwahrheit“, sagt Hans-Christian Ströbele. Das wirkt vielleicht nicht immer kompetent. Dafür aber ehrlich.

Doku: „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort – Lüge und Wahrheit in der Politik“, 12.8., 22.45 Uhr, ARD