22. September, 18 Uhr: Die Bundestagswahl ist gelaufen – und die Republik erfährt, ob Union und FDP weiterregieren können. Unsere Autoren wagen einen – nicht ganz ernst gemeinten – Blick in die nähere Zukunft.

Schwarz-Rot

Weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün haben eine Mehrheit, so zeichnet es sich bereits am frühen Wahlabend ab. Mit einem Ergebnis von 40 Prozent hat Angela Merkel erstmals für die CDU/CSU eine Wahl gewonnen. „Wir koalieren nicht mit den Linken, und lassen uns auch nicht dulden“, sagt SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. Nach drei Tagen beenden Union und Grüne ihre Verhandlungen. „Die SPD war immer eine verantwortungsbewusste, staatstreue Partei“, sagt Angela Merkel. „Merkel muss weg“, verlangen mehrere SPD-Landesvorsitzende.

Nach seinem 24-Prozent-Debakel dankt Peer Steinbrück ab, SPD-Chef Sigmar Gabriel lässt sich nach wochenlangem Gezerre auf Koalitionsverhandlungen mit der Union ein. Merkel sagt noch vor Beginn der Gespräche zu, das Betreuungsgeld zu kippen, den Spitzensteuersatz zu erhöhen und einen allgemeinen, gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro einzuführen.

Bald darauf kursiert in der SPD-Zentrale eine Kabinettsliste. Die Abschaffung der privaten Krankenversicherung „werden wir ergebnisoffen prüfen“, heißt es im Koalitionsvertrag, den Union und SPD Ende November verabschieden. Dieser trägt den Titel: „Unser solidarisches Deutschland. Gerecht und gleichberechtigt.“ Darin ist zu lesen, dass „Europas Jugendlichen ein Job garantiert werden muss. Das ist eine Verpflichtung der Europapolitik, wie sie Willy Brandt und Helmut Kohl betrieben haben.“ Kanzlerin Merkel sagt auf dem CDU-Parteitag: „Ich freue mich darauf, mit der SPD zu regieren.“ Auf dem SPD-Parteitag stimmen 55 Prozent der Delegierten für den Koalitionsvertrag, 45 Prozent dagegen. Zuvor hatte Erhard Eppler für eine Zustimmung geworben.

Merkels Kabinett gehören unter anderem an: Außenminister Martin Schulz (SPD), Innenminister Thomas Oppermann (SPD), Verteidigungsminister Ronald Pofalla (CDU), Energieministerin Ursula von der Leyen (CDU) und Entwicklungshilfeminister Klaus Wowereit (SPD). Horst Seehofer schlägt vor, Frank-Walter Steinmeier (SPD) als deutschen Kandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten vorzuschlagen. „Er kann es“, sagt Seehofer über Steinmeier.

Rot-Rot-Grün

Peer Steinbrück beißt die Lippen noch fester aufeinander als sonst. 25 Prozent für die SPD, richtig bitter. Als er mit Ehefrau Gertrud beratschlagt, wie er aus seiner Niederlage doch noch eine Kanzlerschaft machen kann, tritt schon im Willy-Brandt-Haus Parteichef Sigmar Gabriel vor die geschockten Anhänger. In wenigen Sätzen erklärt er flüssig, dass die SPD sich nicht wieder in eine Große Koalition und unter das Joch von Angela Merkel begeben dürfe und eine linke Mehrheit dazu verpflichte, dass das linke Lager auch gemeinsam regieren müsse. „Der Bundesrat ist bereits rot-rot-grün, also können wir durchregieren!“ Steinbrück bleibt danach nur noch der Rückzug.

Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin ist schnell von Gabriels Idee überzeugt, die Grünen haben mit 15 Prozent immerhin doppelt so stark abgeschnitten wie die Linkspartei und müssen keine größeren Störfeuer des kleinsten Koalitionspartners fürchten. In einem rechnerisch möglichen Bündnis mit der 36 Prozent starken CDU hätten die Grünen dagegen mehr Probleme.

Allerdings ziert sich die Führungsriege der Linkspartei. Elf Wochen dauern die Koalitionsverhandlungen. Frank-Walter Steinmeier versucht in der Zwischenzeit im Alleingang eine Sondierung mit der CDU über eine Große Koalition. Als die Geheimaktion an die Presse durchsickert, muss er den SPD-Fraktionsvorsitz abgeben. Dann knickt die Linkspartei ein: Im Koalitionsvertrag werden lediglich neue Auslandseinsätze der Bundeswehr ausgeschlossen, bisherige Missionen können vorerst weiterlaufen. Der Mindestlohn kommt mit neun Euro. Außerdem wird ein Prüfauftrag an mehrere Verfassungsrechtler erteilt, ob die Hochwasserkatastrophe vom Sommer eine mehrjährige Aussetzung der Schuldenbremse rechtfertigen könnte.

Unter diesen Bedingungen sichert sich Trittin lieber das Umweltministerium und überlässt Sahra Wagenknecht das Finanzressort. Kurz darauf fällt auf, dass die Linke-Politikerin regelmäßig schon donnerstagabends für ein langes Wochenende ins Saarland zum Lebensgefährten Oskar Lafontaine aufbricht und stets Berge von Akten mitnimmt. Montags sprüht sie dann immer vor neuen Ideen.

Ampel

Noch am Wahlabend erhält SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück einen Anruf von Rainer Brüderle, seinem Kollegen von der FDP, die überraschend stark den Wiedereinzug in den Bundestag schafft. „Wir sollten bei einem schönen Wein reden, wann wir verhandeln“, schlägt Brüderle vor. „Das Wir gewinnt“, gibt Steinbrück zurück und lacht laut auf. Brüderle hatte schon vor der Wahl dafür gesorgt, dass die Liberalen eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten offenlassen – mit denen er vor Jahren in Rheinland-Pfalz so gemütlich regiert hatte. Pläne für einen Parteitag mit einem klaren Bekenntnis zu CDU/CSU und einer formalen Absage an eine Ampelkoalition hatte Brüderle mit Verweis auf seinen vollen Wahlkampfkalender zu Fall gebracht.

Am Tag nach der Wahl bricht in der FDP ein offener Machtkampf aus, Parteichef Philipp Rösler bietet seinen Rückzug an, diesmal nimmt die Partei seine Offerte an. Brüderle ist Favorit für die Nachfolge. Nach dem Scheitern der schwarz-grünen Verhandlungen bietet die SPD den Liberalen so ziemlich alles an, um sie für eine Koalition zu gewinnen – und eine Große Koalition zu verhindern. Eher lustlos ziehen die Grünen mit. Steinbrück sagt nach zwei Verhandlungsrunden: „Die Steuererhöhungen sind vom Tisch.“ Die baden-württembergischen Grünen jubilieren. „Wir verhindern Deutschlands Weg in den Ruin“, sagt Brüderle, und in FDP-Kreisen heißt es, als Funktionspartei überlebe man nur in Regierungsverantwortung. „Mancher Sozialdemokrat denkt marktwirtschaftlicher als Herr Seehofer“, sagt Wolfgang Kubicki.

Mit Rotkäppchen-Sekt, Berliner Weiße mit Waldmeister und Eierlikör stoßen die Partner auf ihren Koalitionsvertrag an. Steinbrück wird trotz seines miesen 25-Prozent-Ergebnisses zum Bundeskanzler gewählt. Angela Merkel, wiewohl sie 38 Prozent geholt hatte, erklärt den Rücktritt vom CDU-Vorsitz. Sie leitet fortan einen hochkarätigen Thinktank der UNO zur Zukunft des Weltklimas. Parteichefin wird Ursula von der Leyen, die sich knapp gegen Volker Bouffier durchsetzte. Wolfgang Schäuble wird Bundestagspräsident. Im Kabinett Steinbrück I sitzen unter anderen: Außenminister Guido Westerwelle (FDP), Finanzminister Jürgen Trittin (Grüne), Verteidigungsminister Thomas Oppermann (SPD), Gesundheitsministerin Andrea Nahles (SPD), Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Entwicklungshilfeminister Wolfgang Kubicki (FDP).

Schwarz-Gelb

Erstmals seit Übernahme des Parteivorsitzes durch Angela Merkel im Jahr 2000 behalten die Meinungsforscher recht, und die CDU holt nicht nur in den Umfragen, sondern auch am Wahlabend 40 Prozent der Stimmen. Die Werte für die FDP hatten die Demoskopen zwei Wochen vor der Bundestagswahl überraschend von vier auf sieben Prozent korrigiert, womit sie ebenfalls richtiglagen. Die Spitzenkandidaten von CDU, CSU und FDP kündigen unmittelbar nach Schließung der Wahllokale an, das „erfolgreichste Regierungsbündnis seit der Wiedervereinigung“ fortzusetzen.

Nach zähen Koalitionsverhandlungen, bei denen um jedes Komma gerungen wird, vereinbart Schwarz-Gelb, künftig auf gegenseitige Beschimpfungen wie „Gurkentruppe“ oder „Wildsäue“ zu verzichten – was nicht ganz zum Titel des Koalitionsvertrags passt („Weiter so. Keine Experimente“).

Die geschrumpfte FDP muss zwei ihrer bislang fünf Ministerposten aufgeben. Ex-Gesundheitsminister Daniel Bahr erklärt, dass er seinen Platz freiwillig räume und als frischgebackener Vater künftig lieber im Familienausschuss des Bundestags für die bessere Vereinbarkeit von Kind und Mandat kämpfen wolle. Nachfolgerin wird Dorothee Bär (CSU), die ankündigt, den Kontakt zu Krankenkassen und Ärzten intensivieren zu wollen, vor allem per Twitter.

Ex-Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel hätte gern weitergemacht, muss seinen Posten aber an die CDU abgeben, die Annette Schavan mit der Begründung nominiert, Niebel habe auch keinen Doktortitel gehabt. Das Haus der Geschichte in Bonn bietet dem Liberalen an, neben seinem Bundestagsmandat künftig als Touristenführer zu arbeiten und den Besuchern Hintergründe zu modernen Ausstellungsobjekten wie der jüngst in die Sammlung aufgenommenen Fallschirmjägermütze zu vermitteln.

Einige Ressorts werden neu strukturiert: So müssen Wirtschafts- (Philipp Rösler, FDP) und Umweltminister (Peter Altmaier, CDU) Kompetenzen an den neuen Energiewendeminister Hermann Gröhe (CDU) abgeben. Um das Kabinett nicht aufzublähen, wird das Familienressort Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) zugeschlagen. Die hatte sich auch bislang ohne offizielle Zuständigkeit um das Thema gekümmert. „Bei uns werden die Posten nach Qualifikation besetzt. So weit ist es gekommen“, heißt es in der Union. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) bleibt deshalb im Amt, Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) wechselt zur Nato, und Kanzleramtschef Ronald Pofalla (CDU) übernimmt die Bundeswehr.

Rot-Grün

Eine rot-grüne Mehrheit am späten Wahlabend, nach Monaten in der Defensive? „Wahnsinn“, meint Peer Steinbrück in den Morgenstunden des 23. September, „Su-Peer“, rufen seine Fans im Willy-Brandt-Haus. Die Koalitionsverhandlungen aber ziehen sich in die Länge. Nach einem Warnruf der deutschen Wirtschaft legen beide Parteien die Pläne zur „Bürgerversicherung“ ad acta.

Die Steuern werden moderat erhöht, der Eingangssteuersatz gesenkt – auf Intervention von Finanzminister Jürgen Trittin. Außenministerin wird Katrin Göring-Eckardt, die Europaabteilung des Auswärtigen Amtes wird dem Kanzleramt unterstellt. Neue Arbeitsministerin ist Andrea Nahles. Als außenpolitische Berater beruft Kanzler Steinbrück Egon Bahr, Gerhard Schröder und Helmut Schmidt – denn: „Die haben zusammen fast 300 Jahre Erfahrung.“

Eine Woche nach der Regierungsbildung berichten mehrere Medien über einen handfesten Krach zwischen Steinbrück und SPD-Chef Sigmar Gabriel, nachdem dieser einem Minister zugeraunt hatte: „Du bist vollkommen überfordert.“

Schwarz-Grün

Es ist das stärkste Ergebnis für Angela Merkel: 41 Prozent für die Union! Triumphal zieht die CDU-Chefin um 18.22 Uhr nach den ersten Hochrechnungen von ARD und ZDF ins Konrad-Adenauer-Haus ein. Horst Seehofer, der in München die Live-Übertragung verfolgt, stutzt kurz, als er im Gedränge in der CDU-Parteizentrale die Kanzlerin entdeckt: Das Jackett der Wahlsiegerin leuchtet in hellem Grün.

Zwar ist klar, dass aus einer Neuauflage von Schwarz-Gelb nichts wird. Denn die FDP ist weit unter der Fünf-Prozent-Hürde geblieben, und Philipp Rösler hat schon den Parteivorsitz abgegeben, bevor Merkel vor die Kameras tritt. Aber CSU-Chef Seehofer rechnet wie die meisten Unionsleute damit, dass Merkel nun Verhandlungen mit der SPD über eine Große Koalition ankündigt. Doch Merkel schlägt einen ihrer berühmten Haken.

Beflügelt von ihrem Rekordergebnis verkündet sie, zuerst mit den Grünen zu sondieren und erst danach mit der SPD. Die Machtstrategin hat sich alles genau zurechtgelegt: Als Regierungschefin der ersten schwarz-grünen Koalition im Bund schafft sie es in die Geschichtsbücher, sie kann ihre SPD-nahe Widersacherin Ursula von der Leyen kaltstellen, die in einer Großen Koalition sehr gefährlich werden könnte – und wenn CDU, CSU und Grüne sich nach der Hälfte der Legislaturperiode im Tumult trennen, hat Merkel sich sowieso schon auf den neuen Posten der EU-Präsidentin gerettet.

Im Siegestaumel wagt es am Wahlabend niemand aus der CDU und auch Seehofer nicht, Merkel zu stoppen. Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin trifft sich kurz vor Mitternacht mit ihr im Berliner Szenerestaurant Borchardt: Der 58-Jährige hat 14 Prozent eingefahren und will sich seine letzte Chance auf ein Ministeramt nicht entgehen lassen. Um zwei Uhr früh ist alles klar: Trittin wird Vizekanzler und Ressortchef im neuen Energieministerium, Schäuble bleibt Finanzminister, Katrin Göring-Eckardt übernimmt das Arbeitsministerium, und Peter Altmaier wird als alter Grünen-Freund Kanzleramtsminister. Der Spitzensteuersatz steigt, Mindestlohn und Frauenquote kommen, eine Vermögensabgabe gibt es nicht. Die SPD versinkt wochenlang im Chaos, dann steht Sigmar Gabriel für Neuwahlen nach dem Aus von Schwarz-Grün bereit.