Viele deutsche Politiker und Schriftsteller eint eines: Sie wurden von der NSDAP als Mitglieder geführt. Wie sie damit umgehen, ist jedoch höchst unterschiedlich, wie der Hamburger Autor Malte Herwig dokumentiert.

Der junge Rechtsanwalt Dr. Günther Nollau sitzt im Sommer 1945 an der Schreibmaschine und müht sich mit einem Fragebogen der Dresdner Verwaltung ab. Er will endlich beruflich weiterkommen nach diesem furchtbaren Krieg, in dem er 1941 als Soldat auf Kreta ein Auge verloren hat. Ob er NSDAP-Mitglied gewesen sei? Für die Antwort – Ja oder Nein – ist nur eine halbe Zeile vorgesehen. Nollau braucht drei. „Nein. Mir ist jedoch etwa im Mai 1944 mitgeteilt worden, dass ich ab 1.1.42 aufgenommen sei (überführt aus dem NS-Kraftfahrerkorps).“ Er habe weder Mitgliedskarte noch Parteibuch erhalten. In einem späteren Fragebogen 1947 fasst er sich kürzer: „Nein, nur Parteianwärter“.

Fakt ist: Die zentrale NS-Mitgliederkartei, die nach 1945 in die Hände der Amerikaner gelangte und zum Grundstock des Berlin Document Centers (BDC) wurde, führte ihn ab 1942 unter der Mitgliedsnummer 8974972. Trotzdem machte Nollau in der jungen Bundesrepublik Karriere, stieg zum Ministerialdirektor und 1972 sogar zum Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf. Damit ist er ein Beispiel dafür, „wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden“ – so der Untertitel des neuen Buchs „Die Flakhelfer“.

Der Hamburger Autor Malte Herwig sorgt vor allem wegen der Namen für Aufsehen, die er in den Akten des BDC im Bundesarchiv und im Nationalarchiv in Washington ausgegraben hat. Unter anderem die Politiker Hans-Dietrich Genscher, Horst Ehmke und Erhard Eppler; Soziologe Niklas Luhmann, Dramatiker Tankred Dorst, Kabarettist Dieter Hildebrandt, die Schriftsteller Erich Loest, Siegfried Lenz und Martin Walser; Journalist Peter Boenisch, Rhetoriker Walter Jens, Komponist Hans Werner Henze sowie Hilmar Hoffmann, ehemaliger Präsident des Goethe-Instituts. Wie Nollau alle NSDAP-Mitglieder. „Eine ganze Generation von Übervätern geriet in den letzten Jahren trotz tadelloser Nachkriegslebensläufe ins Zwielicht, weil sie vor 1945 im Nationalsozialismus mitgemacht hatten“, schreibt Herwig.

In seinem Buch umfasst „Flakhelfer“ nicht nur die Jahrgänge 1926 bis 1928 – Hitlers „letztes Aufgebot“ –, sondern die ab 1919 Geborenen; junge Leute, geprägt von einer Diktatur, und dennoch die Geburtshelfer der Nachkriegsdemokratie. Wie kam das? Viele der noch lebenden Betroffenen hat Herwig besucht und befragt. Aber: „Mit Ausnahme von Eppler und Loest wollte sich keiner erinnern können, jemals einen Aufnahmeantrag unterschrieben zu haben“, schreibt Herwig. „Die NSDAP – ein Verein von Zufallsmitgliedern?“

Entspannt sitzt Herwig in einem Café in der Isestraße, so als habe er nicht in ein Wespennest gestochen. Immer wieder hört er von seinen Interviewpartnern, sie seien ohne eigenes Wissen in die NSDAP geraten, irgendwie seien wohl ganze Jahrgänge der Hitlerjugend (HJ) kollektiv aufgenommen worden. Dafür fanden Experten für die Geschichte der NSDAP und der Hitlerjugend aber bisher keinerlei Belege. Historiker wie Michael Buddrus und Armin Nolzen bestehen darauf: Voraussetzung für die Parteiaufnahme war ein eigenhändig unterschriebener Aufnahmeantrag.

8,5 Millionen NSDAP-Mitglieder gab es, aber keiner will es gewesen sein

„Ich versuche mit meinem Buch zu zeigen, dass viele der Flakhelfer, die wir heute bewundern und respektieren, gebrochene Biografien haben. Dass auch junge, intelligente, einigermaßen anständige Menschen in die NSDAP eintreten konnten. Wir wissen heute alles über Hitlers Hund und Eva Brauns Armbanduhr – aber diese simple Einsicht fällt uns offensichtlich noch schwer.“

Schon den Entertainer Hans-Joachim Kulenkampff hatte das in einer Talkshow zum Platzen gebracht: 8,5 Millionen Mitglieder versammelte die NSDAP zuletzt, „aber hinterher will’s keiner gewesen sein“. Das trieb Herwig um. Gab es denn nicht sogar nachvollziehbare Gründe, weshalb sich junge Leute vom NS-Regime blenden ließen? Pfadfinderspiele, Sportfeste auch für Mädchen, Gruppenromantik, Lagerfeuer? Sorgten nicht Winterhilfswerk und Volkswohlfahrt dafür, dass Menschen mit Essen und Brennstoff versorgt wurden? Gab es nicht Leni Riefenstahls bewunderte Filme? Natürlich hat die Anziehungskraft gewirkt – gerade auf ganz junge Leute. Warum gibt das keiner zu?

Bei seinen Interviews stieß Herwig auf sehr verschiedene Geschichten. Der Politikwissenschaftler Iring Fetscher etwa (Jahrgang 1922) bewarb sich 1940 als 18-Jähriger um die aktive Offizierslaufbahn, weil er sich beweisen wollte. In seinen Memoiren hatte er geschrieben, er habe die NS-Mitgliedschaft ablehnen können, da er schon als Offiziersanwärter angenommen worden war (während der Soldatenzeit ruhte die Mitgliedschaft ohnehin). Dennoch führte ihn die NSDAP als Mitglied Nr.7729137. Wie erklärt er das? „Ich weiß es nicht.“ Fetscher war später Mitglied der Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum und der SPD-Grundwertekommission und setzte sich in seinen Lebenserinnerungen kritisch mit den fragwürdigen Idealen seiner Jugend auseinander. Die Sache mit der Partei allerdings fehlt.

„Ich erinnere mich nicht, jemals den Wunsch verspürt zu haben, der NSDAP beizutreten“, sagte der Komponist Hans Werner Henze (Jahrgang 1926) im Gespräch mit Herwig. Für den Aufnahmeschein, den die Gauleitung Südhannover mit seinem Namen im März 1944 an die Reichsleitung schickte, hat er keine Erklärung. Henze hat nach dem Krieg „unser kollektives Versagen gegenüber der Diktatur“ öffentlich bedauert, viele seiner Musikwerke bezogen Stellung gegen Unrecht und Verfolgung. Aber die Sache mit der Partei – vergessen.

Auch der spätere Bundesminister und SPD-Kanzleramtschef Horst Ehmke will „keinen Antrag gestellt“ haben; laut Karteikarte wurde er im April 1944 als NSDAP-Mitglied aufgenommen. „Ich war ein überzeugter Jungvolkführer, aber kein überzeugter Nazi“, sagte Hilmar Hoffmann, später Kulturschaffender und Präsident des Goethe-Instituts. Aber er wurde als Mitglied geführt.

Wenn man einmal gelogen hat fällt es schwer, später die Wahrheit zu sagen

Ebenso Walter Jens, aber über seine Mitgliedschaft schwieg der wortgewaltige Tübinger Rhetoriker, wie sein Sohn Tilman Jens schrieb: „Er hat sich so geschämt, dass er nicht einmal die Frau, mit der er mehr als ein halbes Jahrhundert lebte, eingeweiht hat.“ Hans-Dietrich Genscher trat laut Karteikarte 1944 als 17-Jähriger ein – ohne sein Wissen, wie er sagte: „Ich habe keinen Aufnahmeantrag unterschrieben.“ Von der Existenz seiner Mitgliedskarte habe er erst in den 70er-Jahren erfahren, als er Innenminister unter Willy Brandt war.

Die Mitgliedskarten von anderen deutschen Spitzenpolitikern wurden allerdings aus dem Archiv entfernt und unzugänglich im Büro-Safe des BDC-Leiters aufbewahrt. In der Zeit des Kalten Krieges wollten die USA vermeiden, dass die Spitzen des deutschen Bündnispartners in Misskredit gebracht würden. „Sie wollten nicht, dass jemand in den Biografien prominenter Politiker herumwühlt und feststellt, wer eine braune Vergangenheit hat“, sagt Herwig. Zugang hatten jedoch deutsche Behörden, die fleißig nach jeder Bundestagswahl beim BDC anfragten, „weil die neuen Bundestagsabgeordneten abgecheckt werden sollten“. Auch Kandidaten fürs Bundesverdienstkreuz und andere staatliche Auszeichnungen wurden auf eine schmutzige Vergangenheit hin überprüft. Die Bundesregierung hatte allerdings keine Eile, das BDC von den USA zu übernehmen. Sie zögerte die Rückgabe bis nach der Wiedervereinigung hinaus. Erst 1994 wurde das BDC ins Bundesarchiv überführt.

Für die Vergesslichkeit seiner Interviewpartner hat Herwig mehrere Erklärungen. Scham – ein komplexes Gefühl – könne Bilder auslöschen, abspalten, vergessen machen. „Bei anderen ist es offenbar so: Wenn sie mit 17 da mal eingetreten sind und dann ihr Leben lang für die Demokratie gearbeitet haben, kann man nachvollziehen, dass sie glauben: Ich habe etwas getan, aber meine Lektion daraus gelernt, und jetzt habe ich das Recht, mich nicht entblößen zu müssen mit diesem Detail.“ Dafür hat Herwig Verständnis. „Wir tun heute so, als ob 1945 einfach nur der Vorhang runtergehen musste, und alle waren erlöst. Aber so war das nicht. Es wurde ein langer, mühsamer Erkenntnisprozess. Was die Flakhelfer angetrieben hat, war die Erkenntnis, dass sie verführt wurden, und sicher der unbedingte Wille, sich ihr Leben zurückzuerobern.“ Und da möchte man diese dumme Mitgliedschaft vergessen. Ein Vorgang, wie ihn Nietzsche beschrieb: „Das habe ich gethan, sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich giebt das Gedächtniss nach.“

Helmut Schmidt war kein NSDAP-Mitglied – noch 1980 wurden er und sein gesamtes Kabinett von den Amerikaner im BDC überprüft. Aber er kennt seine Generation. Als Herwig ihn fragte, warum Menschen wie Genscher noch heute über ihre NSDAP-Mitgliedschaft schweigen, „da hat er mit einem Zitat in Englisch geantwortet: ‚Tell a lie and stick to it‘ – wenn man einmal gelogen hat, fällt es schwer, später mit der Wahrheit herauszukommen.“

Herwigs Anlass, sich als Historiker und Journalist mit dem Thema NS-Verstrickung zu beschäftigen, war „die Geschichte mit Günter Grass“, sagt er. Aber die „Geschichte“ reicht in seine eigene Familie hinein. „Dass auch meine beiden Großväter in der NSDAP waren, habe ich erst vor Kurzem erfahren, als ich die Frage so offen stellte. Mir wurde klar, dass auch ich mich gutgläubig darauf verlassen hatte: Die Nazis, das waren immer die anderen. Es lag auch an mir, dass ich Informationen nicht bekam, weil ich nicht gefragt habe. Die Wahrheit ist keine Bringschuld, man muss sie sich holen.“

Ihm gehe es nicht um Anschuldigungen, nicht darum, dass 17- oder 18-Jährige in die NSDAP eintraten oder was vor 1945 passierte. Sondern um das, was danach geschah. Dieses Schweigen, Abstreiten oder Lügen erst macht es den Nachgeborenen so schwer zu begreifen, wie die Deutschen auf einen Mann wie Hitler und seine Bewegung hereinfielen. „Das ist nichts, was tief in der Vergangenheit ruht, sondern etwas, das bis in die Gegenwart reicht, wie man an den Betroffenen sieht“, sagt Herwig. „Und wenn dann herauskommt, dass jemand NSDAP-Mitglied war, ist es wie bei politischen Skandalen: Die Leute stürzen meist nicht über die Tat selbst, sondern über die Lüge.“

Malte Herwig: „Die Flakhelfer“. DVA, 320 Seiten, 22,99 Euro