Die irische Autorin Judy Dempsey spricht über ihr neues Buch über die Kanzlerin und die Deutschen. Dempsey stellt heute Abend ihr Buch und Thesen zudem im KörberForum in Hamburg vor.

Hamburg. Seit acht Jahren hat Judy Dempsey die Kanzlerin in Berlin beobachtet, auch auf Reisen begleitet. Und sich gewundert: Die mächtigste Frau Europas macht aus ihrem Job nicht das, was sie könnte – und im Sinne Europas auch müsste. Judy Dempsey stellt heute Abend im KörberForum in Hamburg Buch und Thesen vor .

Hamburger Abendblatt: Frau Dempsey, Sie schreiben, Merkel habe die Nachkriegs-CDU verändert wie sonst niemand. In welchen Bereichen denn?
Judy Dempsey: Angela Merkel ist keine echte Konservative. Aber die CDU passt zu ihr, und als Parteichefin hat sie die CDU in den vergangenen sieben Jahren total verändert, etwa in der Frauen- und Familienpolitik, durch die Beendigung der Wehrpflicht, mit der Diskussion über das Ehegattensplitting. Und die Energiewende natürlich, die ist für die CDU eine wirkliche Revolution. Das ist nicht mehr die CDU der 80er Jahre, Merkel hat sie wirklich modernisiert. Aber jetzt muss sie um ihre Partei auch kämpfen. Sie muss diejenigen wiedergewinnen, die sie nicht mitgenommen hat – den konservativen Flügel. Das wird nicht einfach.

Sie kennen Merkel jetzt seit acht Jahren, haben sie mehrmals auf Reisen begleitet. Hat sie sich verändert?
Dempsey: Sie ist eine echte Machtpolitikerin. Gegenüber Opposition innerhalb ihrer Partei zeigt sie Null Toleranz. Seit sie als junge Ostdeutsche 1990 in die Partei kam, hat sie viel über Macht gelernt. Die hat sie in ihrer zweiten Amtszeit konsolidiert.

Warum meinen Sie, dass Deutschland unter Merkel weit hinter den Möglichkeiten zurückbleibt, die es wegen seiner wirtschaftlichen Macht hätte? Was hemmt denn Merkel?
Dempsey: Sie ist keine Risikokanzlerin, sondern sehr vorsichtig, ihren Einfluss in Europa geltend zu machen. Das finde ich schade. Europa hat in den letzten Jahren geschlafen. Es erscheint unfähig zu strategischem Denken. Wir stecken unseren Kopf in den Sand, trotz der vielen Krisenherde, die es allein südlich des Mittelmeers gibt. Die ignorieren wir einfach, statt eine globale Perspektive zu entwerfen, zumindest eine Perspektive für unsere südlichen und östlichen Nachbarn. Gerade Deutschland müsste das tun, aber es will diese Verantwortung offenbar nicht. Ich fürchte, dafür werden wir einen hohen Preis bezahlen müssen.

Welches Bild, welche Vision hat Merkel von Europa und der EU?
Dempsey: Deutschland verlässt sich immer weniger auf die gemeinsamen Institutionen der EU. Kohl hat noch wesentlich stärker auf Integration gesetzt und gefordert, dass die Mitgliedsländer ihre Souveränität nach und nach an Europa abgeben. Merkel hat nach meinem Eindruck eine andere Perspektive: Sie will Deutschlands nationale Interessen verteidigen und setzt sie über die europäische Einigung.

Früher hat Merkel den Dalai Lama empfangen, jetzt sichert sie Chinas Regierungschef engere kulturelle Zusammenarbeit zu. Der Künstler Ai Wei wei, der einen Beitrag zum deutschen Pavillon der Biennale geleistet hat, darf aber am 1. Juni nicht nach Venedig fahren. Ist Merkels Haltung hier noch glaubwürdig?
Dempsey: In ihrer ersten Amtszeit hat Merkel eine klare Position für die Menschenrechte bezogen. Das war sehr wichtig für die Zivilgesellschaften in Osteuropa und China. Heute ist sie Realpolitikerin. Aber es geht doch auch bei der Handelspolitik um Werte, ebenso bei der Kultur, die ist ein Spiegel der Werte unserer Gesellschaft, unserer Weltanschauung.

Inzwischen vertritt sie einen reinen Wirtschafts-Pragmatismus?
Dempsey: Die Werte stehen bei ihr nicht an erster Stelle. Sie sind in den Hintergrund getreten. Merkels erstes Ziel ist zurzeit, Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten und zu schaffen. Sie ist näher an den Interessen der Industrie, was nach der globalen Finanzkrise und der Euro-Krise durchaus verständlich ist. Sie fühlt sich für die Jobs in Deutschland verantwortlich.

Merkel wollte einen großen Sprung in der Bildungspolitik machen – der kam nicht. Sie wollte eine große Steuerreform angehen – ist nicht in Sicht. Sie wollte die Laufzeiten der AKWs verlängern – daraus wurde der Ausstieg. Sie will die Energiewende – die kommt aber nicht voran. Woran fehlt es Merkel?
Dempsey: Sie erklärt zu wenig. Schon in der Euro-Krise hat sie die besondere Haltung Deutschlands nicht erläutert. Und die Energiewende – von der Großbritannien, Frankreich, China und Skandinavien überrascht, fast schon schockiert waren –, müsste sie der deutschen Bevölkerung besser erklären. Merkel und nicht Umweltminister Altmaier müsste den Deutschen sagen, warum die Energiewende notwendig ist und auch, dass sie viel kostet.

Bei Kontroversen ist Merkel vorsichtig, sie guckt sich erst mal an, wohin sich die Debatte bewegt. So war es zum Beispiel, als zu Guttenberg als erster offen von „Krieg“ in Afghanistan sprach.
Dempsey: Ja, erst als andere sich seiner Meinung angeschlossen haben, hat sie zugestimmt. Oder nehmen Sie Horst Köhler. Sie hat ihn gestützt, ihre Zusammenarbeit war sehr gut. Dann gab er dieses Interview, bei dem er mit Blick auf somalische Piraten sagte, Deutschland müsse gegebenenfalls seine Handelswege auch mit Hilfe von Soldaten schützen. Die Medien haben ihn sofort heftig angegriffen. Merkel spürte, dieses Thema könnte gefährlich sein, und ging auf Abstand zu Köhler. Sie lässt andere die notwendigen Debatten führen und wartet erst ab, welche Position Erfolg hat. So hat sie es auch mit Ursula von der Leyen gemacht, die vielen Konservativen beim Thema Familienpolitik oder Mindestlohn zu radikal, bei den jungen Leuten aber sehr beliebt ist. Nur: Man braucht in jeder Partei auch alternative Meinungen und verschiedene Stimmen. Merkel kann damit nicht gut umgehen, das widerspricht ihrer Perspektive des Machterhalts. Auch Kohl hat das nicht akzeptiert.

Die Kanzlerin ist immer noch die beliebteste Politikerin in Deutschland, hat sehr gute Umfragewerte. Warum entschuldigen die Deutschen Merkels Brüche und Versäumnisse? Was sehen sie in ihr?
Dempsey: Sie sehen in ihr Stabilität, keine Arroganz, Zuverlässigkeit. Die Garantie, erfolgreich durch die Eurokrise zu steuern. Die Mehrheit der Deutschen schätzt keine Experimente und keine Hauruck-Entscheidungen.

Ist sie für die Deutschen also eine bequeme Kanzlerin?
Dempsey: Die Deutschen sind stolz auf sie, auch weil sie eine promovierte Wissenschaftlerin ist. Und weil sie es schafft, sich von jedem Skandal fern zu halten. Sie ist einfach begabt.

Buchpremiere „Das Phänomen Merkel“ mit Judy Dempsey: Heute abend, 19 Uhr, Körber Forum, Kehrwieder 12, Anmeldung unter Körber Forum erforderlich