Analphabeten und Politik – das passt scheinbar kaum zusammen. Wer schlecht lesen und schreiben kann, für den sind Parteiprogramme, Gesetzestexte und Wahlzettel eine fremde Welt. Doch einige Betroffene treten öffentlich für ihre Rechte ein.

Vor Kurzem war Solveig K. auf der Buchmesse in Leipzig. 100.000 Bücher präsentierten die Aussteller hier, fast 3000 Autoren waren zu Besuch. Alles drehte sich um Buchstaben. Solveig K. ist 28 Jahre alt, und sie lernt gerade richtig lesen und schreiben. Die Wissenschaft nennt sie einen „funktionalen Analphabeten“. 7,5 Millionen von ihnen leben in Deutschland, knapp 170.000 in Hamburg. Solveig K. übt seit acht Jahren in Sprachkursen an der Volkshochschule in Billstedt Grammatik und Buchstabieren. Sie sagt: „Später möchte ich meinen Kindern vor dem Einschlafen vorlesen.“

Ihren Nachnamen möchte Solveig K. nicht so gerne in der Zeitung lesen. Wer in der Schule in Mathe schlecht war, dem muss das nicht peinlich sein. Man witzelt das weg. Aber wer nicht richtig lesen und schreiben gelernt hat, der wird als doof abgestempelt. Viele Analphabeten verstecken ihre Schwäche deshalb so gut es geht. Solveig K. will sich nicht mehr verstecken. Sie kämpft für ihre Rechte.

Die junge Frau engagiert sich seit drei Jahren im Alpha-Team der Hamburger Volkshochschule, das die Interessen der Analphabeten in der Öffentlichkeit vertritt. Die Team-Mitglieder erklären, werben für ihre Ziele und beklagen öffentlich, dass sie ausgeschlossen sind von einer Gesellschaft, in der fast alles auf Schrift aufbaut: in der Schule, im Beruf, in der Bank, in den Behörden. Und in der Politik. Deshalb waren Solveig K. und einige ihre Mitstreiter auf der Buchmesse in Leipzig. Dort, wo alle anderen wie selbstverständlich lesen und schreiben können. Für Menschen wie Solveig K. ist das nicht selbstverständlich. Nach der zweiten Klasse wechselte sie von der Grundschule an die Förderschule. Erst Jahre später wurde klar, dass sie Legasthenikerin ist. Heute arbeitet sie als Küchenhilfe.

Auf der Buchmesse in Leipzig präsentierte der Bundesverband Alphabetisierung die Kampagne „Lesen und Schreiben – Mein Schlüssel zur Welt“, mit fünf Millionen Euro finanziert vom Bildungsministerium. Nach Angaben des Verbands haben mehr als die Hälfte der 7,5 Millionen Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, trotzdem einen Arbeitsplatz. Viele von ihnen im Baugewerbe, andere in der Gastronomie, manche als Köche oder Hausmeister. Berufe, die nicht von Schrift bestimmt sind. Viele sogenannte „funktionale Analphabeten“ können wie Solveig K. zwar Texte schreiben und auch lesen. Nur sie machen überdurchschnittlich viele Fehler (siehe Kasten). Manche schaffen nur einfache Sätze, andere nicht einmal ihren Namen.

Eine Studie der Universität Hamburg erschütterte 2011 die Bildungsrepublik

Solveig K. und ihre Mitstreiter sprachen in Leipzig mit Besuchern, aber auch mit Lehrern, dem Messe-Direktor, dem Oberbürgermeister. Die Analphabeten räumten mit Klischees und Vorurteilen auf, informierten. Sie machten Politik für ihre Sache. Zwei Mitglieder aus dem Alpha-Team waren sogar schon in Brüssel, diskutierten mit EU-Politikern, andere sind zu Konferenzen und Fachtagungen eingeladen.

2011 war ein Wendepunkt. Ein Forscherteam der Hamburger Universität stellte eine Studie vor. Seitdem gelten in Deutschland 7,5 Millionen Menschen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren als Analphabeten. Die Bildungsrepublik Deutschland erwachte aus einem Traum, in dem es höchstens halb so viele Menschen mit Lese- und Schreibschwäche gab. So lauteten zuvor die Schätzungen, wissenschaftlich ermittelte Zahlen gab es vor 2011 gar nicht. Mit der Hamburger Studie erlebte Deutschland einen PISA-Schock für Erwachsene. Der Analphabetismus landete auf der Agenda in Berlin.

Im Dezember 2011 beschlossen Bund und Länder den sogenannten „Alpha- Pakt“, eine nationale Strategie. Das Bildungsministerium stellt für Forschung und Kampagnen 20 Millionen Euro bis 2015 bereit. Plakate und Fernseh- Spots sollen aufklären und für die Sprachkurse werben. Jedes Jahr lernen etwa 20.000 Analphabeten in Deutschland allein an den Volkshochschulen Deutsch. Es geht nun auch darum, einem großen Teil der Gesellschaft das beizubringen, was die Schule hätte leisten sollen. Und es geht darum, dass Analphabeten vom Rand der Gesellschaft näher in ihre Mitte rücken. Auch in der Politik – der Welt der Parteiprogramme, Gesetzestexte und Wahlzettel.

Solveig K. hat trotzdem ihren Weg in die Politik gefunden, das Alpha-Team ist ihre Partei. „Ich gehe wählen, ich interessiere mich auch für Politik“, sagt sie. Aber viele Informationen gebe es nur schriftlich. In der Zeitung, aber auch im Internet würden politische Debatten meist nur in Texten geführt. „Das ist schade und ausgrenzend.“

Und das führe auch zu einer geringeren Wahlbeteiligung und einer Zunahme von ungültigen Stimmen, sagt Ernst Dieter Rossmann. Er kommt aus Pinneberg, ist Abgeordneter der SPD im Bundestag und Bildungsexperte seiner Fraktion. Das Wählen sei zunehmend komplizierter geworden und werde von vielen Menschen nicht mehr verstanden. Seine Partei hat deshalb einen Vorschlag gemacht. Wenn die Bürger am 22. September die Abgeordneten für den neuen Bundestag wählen, sollen auf den Wahlzettel Fotos der Kandidaten stehen und Symbole der Parteien. In Entwicklungsländern mit hohen Analphabeten-Raten gibt es das bereits.

Ausgehend von der Hamburger Studie geht die SPD von 2,3 Millionen Analphabeten im engeren Sinne aus. 300.000 von ihnen könnten noch nicht einmal ihren Namen schreiben. Und somit auch nicht die Namen der Parteien auf dem Wahlzettel lesen. Der Volkshochschulverband geht sogar von 750.000 wahlberechtigten Analphabeten aus, denen die Teilnahme an Bundestagswahlen faktisch verwehrt sei. Rossmann sagt: „Wahlrecht ist ein Menschenrecht, deshalb müssen wir uns auf neue Bedingungen einstellen, damit Menschen mit Lese- und Schreibschwächen stärker am politischen Leben teilnehmen können.“ Der Antrag der SPD wird derzeit im Innenausschuss des Bundestages verhandelt. Doch nicht alalle in Berlin sehen darin einen Fortschritt. Unionsfraktionsvize Günter Krings warnt vor einem „bizarren Wettbewerb um die beste Foto-Inszenierung“. Bei Bewerbungen werde immer häufiger auf Fotos verzichtet, damit eben gerade nicht nach Äußerlichkeiten ausgewählt werde. Zudem gebe es Möglichkeiten, sich als Analphabet bei der Wahl helfen zu lassen. Der Bildungsexperte der FDP, Patrick Meinhardt, verweist darauf, dass seine Partei Wahlprogramme in „einfacher Sprache“ anbiete und in Video-Podcasts über die Politik der Abgeordneten informiere. „Wir wollen darüber hinaus auch Alpha-Beauftragte in Bund und Ländern einführen“, sagt Meinhardt.

Eine „positive Lesespirale“ soll Betroffene näher an die Politik bringen

Einfache Sprache in der Politik und den Behörden – auch das will die SPD durchsetzen. Kurze und einfache Wörter, Sätze mit nur einer Aussage, viele Erklärungen, keine Abkürzungen. Ergänzt werden die Texte mit bunten Bildern. Künftig sollen Formulare von Behörden, aber eben auch Wahlprogramme klarer und besser verständlich werden. Im Internet sollen Texte in einfacher Sprache über die Arbeit der Politiker informieren. „Durch niedrigschwellige Leseangebote verlieren sie die Scheu vor dem Lesen“, das Selbstvertrauen wachse, die Fähigkeit zu lesen steige und bei den Analphabeten entstehe eine „positive Lesespirale“, heißt es im Vorstoß der SPD. Die Betroffenen kommen der Politik näher. So jedenfalls wünscht sich das die Partei.

Auch Torsten Reinhold interessiert sich für Politik. Seine Informationen holt er sich bisher vor allem aus Fernsehsendungen, Talkshows oder Dokumentationen. Wie Solveig K. ist auch er 28 Jahre alt, auch er zählt zu den 7,5 Millionen Menschen mit großen Schreib- und Leseschwächen. Wie Solveig K. kann auch er Texte verfassen und Artikel lesen. Aber mit vielen Fehlern. Es kostet ihn Zeit und Kraft.

Als das Tempo in der zweiten Klasse der Grundschule zulegte, fiel Reinhold zurück, vor allem in Deutsch. In Diktaten bekam er immer eine Sechs, die Schule testete ihn auf Legasthenie. Aber dabei sei nichts herausgekommen, sagt Reinhold. Doch er schaffte die Schule, absolvierte Deutschkurse, holte die mittlere Reife nach und arbeitet heute als Mechaniker.

Und wie Solveig K. engagiert sich wie Reinhold im Alpha-Team. „Ich will andere junge Menschen darauf aufmerksam machen, dass man etwas tun kann gegen Schreibschwäche“, sagt er. „Sie sollen nicht die gleichen Fehler machen wie ich.“ Zu lange durchmogeln, keine Hilfe suchen, die eigene Schwäche verdrängen, sich verstecken. Menschen wie Torsten Reinhold und Solveig K. sehen in einem Wahlzettel mit Fotos und Wahlprogrammen in einfacher Sprache einen ersten richtigen Schritt in Richtung einer stärkeren politischen Beteiligung. Ihnen aber geht aber vor allem ums Ganze: mehr Aufmerksamkeit, weniger Ausgrenzung.

Almut Schladebach arbeitet am Zentrum für Grundbildung der Volkshochschule in Billstedt. Sie unterstützt das Alpha-Team. „Ich habe noch nie von einem Politiker gehört, der sich outet, schon gar nicht als funktionaler Analphabet, das scheint ein Widerspruch in sich zu sein“, sagt sie. „Das Stigma ist stärker als Homosexualität.“ Doch wer nicht richtig lesen und schreiben kann, muss sich outen, um wirklich Fuß zu fassen in der Gesellschaft. Es geht noch nicht einmal um die Arbeit in einer Partei oder Diskussionen in Berlin oder Brüssel. Es geht für viele erst einmal darum, überhaupt den Mut aufzubringen, sich für einen Sprachkurs anzumelden.

Eine Expertengruppe der Europäischen Union fordert, bis 2020 den Analphabetismus in Europa um 20 Prozent zu senken. Für Hamburg würde das bedeuten: 34.000 Menschen müssten in Sprachkursen lesen und schreiben lernen. 3000 Betroffene müssten sich bis dahin jedes Jahr neu anmelden für Kurse. Die Volkshochschulen sind in Hamburg hauptsächlich für die Sprachkurse für Analphabeten verantwortlich. 28 Kurse bieten sie derzeit pro Semester an, 4,5 Vollzeit-Lehrerstellen sind besetzt. Geht man in Hamburg von 170.000 Betroffenen aus, ist das ein Mitarbeiter für etwa 37.800 funktionale Analphabeten. Das geht aus einer Anfrage der Grünen an den Senat hervor, die dem Abendblatt vorliegt. „Das ist wenig, aber genug“, sagt Schladebach. „Unser Problem ist, dass wir die Betroffenen nicht erreichen.“

Für die Hamburger Grünen-Politikerin und Bildungsexpertin Stefanie von Berg ist vor allem eines fatal: „Die Mitarbeiter in den Jobcentern bekommen keine besondere Schulung, um Menschen mit Lese- oder Schreibschwäche zu erkennen und ihnen zu helfen. Der Befund Analphabetismus scheint reiner Zufall zu sein.“ Auch Schladebach kritisiert, dass die Mitarbeiter in den Jobcentern oft nicht darüber informiert seien, dass die Volkshochschule kostenlos Kurse für Menschen mit Hartz IV anbieten. „Gerade dort bedarf es einer Aufklärungskampagne.“ Der Senat aber sieht die Jobcenter gesetzlich nicht in der Pflicht. Würden Mitarbeiter in Gesprächen feststellen, dass der Arbeitssuchende von Analphabetismus betroffen sei, werde über Kurse informiert und „zur Teilnahme ermutigt“, heißt es in der Antwort auf die Anfrage der Grünen. Seit dem Start der Kampagne „Mein Schlüssel zur Welt“ stieg die Zahl der Anrufe bei der bundesweiten Hotline zur Alphabetisierung. Doch die Zahl der Teilnehmer in den Kursen stagniert. Oder geht zurück, wie in Hamburg. „Wir haben noch keine Kurse schließen müssen“, sagt Schladebach. Jedoch nahmen früher im Durchschnitt acht Lernende teil, heute sind es sechs. Zwei Jahre nach der schockierenden Hamburger Studie drohen die Analphabeten wieder in der Nische zu verschwinden.

Für Schladebach ist die Kampagne des Bundes gescheitert. „Sie erinnert mich an Werbung für einen Bausparvertrag.“ Zwar hat das Ministerium den Bundesverband Alphabetisierung in das Konzept eingebunden, Solveig K. und Torsten Reinhold kritisieren aber, dass Betroffene die Werbespots und Plakate nicht ausreichend mitgestalten konnten. Für sie ist die Kampagne etwas, dass sich Politiker ausgedacht haben. Die beiden wollen weiter politisch aktiv sein – im Hamburger Alpha-Team. Bei einem Treffen mit Schulsenator Ties Rabe (SPD) wollen sie ihre Forderungen vortragen. Torsten Reinhold hat sogar eine Powerpoint-Präsentation vorbereitet und seine Geschichte aufgeschrieben. Bisher kam das Treffen mit Rabe noch nicht zustande. Der Senator habe Termine, sagt Reinhold.