Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, fordert Reformen und ein Versandhandelsverbot für Alkohol und Tabakwaren.

Berlin. Alkohol, Tabak und Waffen gehören nicht in die Hände von Kindern und Minderjährigen. Doch wie kinderleicht sich dies mithilfe des Internets umgehen lässt, zeigten Recherchen der "Welt am Sonntag". Reporter gingen mit dem E-Mail-Account eines zwölfjährigen Mädchens und einer Privatadresse auf Einkaufstour, machten Testkäufe im Netz. Die Versandhändler lieferten Prosecco, hochprozentigen Gin und Wodka sowie stangenweise Zigaretten. Auch brutale Spielfilme oder obszöne DVDs mit einer Altersbeschränkung ab 16 Jahren fanden problemlos ihren Weg zur - fiktiven - zwölfjährigen Kundin. Und über Amazons Internet-Marktplatz "Marketplace" sogar eine Softair-Pistole. Angesichts dieser Ergebnisse fordert der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, eine radikale Lösung: ein Versandhandelsverbot für Alkohol und Tabakwaren. Und das Jugendschutzgesetz aus dem Jahr 1951, das zuletzt 2002 überarbeitet wurde, müsse dringend reformiert werden.

Hamburger Abendblatt: Wie kann es sein, dass Minderjährige problemlos Alkohol und Zigaretten bei Onlineshops kaufen können?

Heinz Hilgers: Der Versand von Alkohol und Tabak ist in Deutschland erlaubt. Es gibt dafür allerdings gesetzliche Altersbeschränkungen, gegen die permanent und in großem Umfang verstoßen wird. Das ist eine Gesetzeslücke, die der Staat schließen muss.

Komasaufen und Flatratepartys liegen im Trend. Macht sich der Staat mitschuldig, weil er gesetzgeberisch nichts tut?

Hilgers: Auf der einen Seite versucht etwa die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Komasaufen und Flatratepartys zu bekämpfen. Auf der anderen Seite sind dafür Tür und Tor geöffnet. Die gesetzlichen Regeln zum Jugendschutz müssen auch im Internet gelten.

Das Jugendschutzgesetz von 1951 wurde 2002 überarbeitet. Kann es mit dem Handel im digitalen Zeitalter überhaupt noch Schritt halten?

Hilgers: Nein. Der Jugendschutz ist hier längst zur Farce geworden. Wir halten das Gesetz für veraltet und finden es sehr bedenklich, dass es inzwischen zweierlei Recht gibt. Das eine gilt im virtuellen Leben des Internets, das andere im realen Leben.

Reichen die Initiativen der Politik aus, um den Jugendschutz auch im Internet zu gewährleisten?

Hilgers: Die Regierung hat dieses Thema verschlafen. Im Familienausschuss des Bundestages sind der Online-Handel und Jugendschutz in den vergangenen Jahren kein Thema gewesen. Die Passivität lässt sich vielleicht auch damit erklären, dass die junge Generation wesentlich aktiver ist als viele Politiker.

Was müsste getan werden?

Hilgers: Wir fordern eine radikale Lösung: ein Versandhandelsverbot für Alkohol und Tabakwaren. Für jugendgefährdende Medien gibt es dies bereits, und es hat sich sehr bewährt. Ein Verbot kann schnell und ohne bürokratischen Aufwand verwirklicht werden. Falls Politik und Wirtschaft andere praktikable Vorschläge haben, sollen sie die jetzt auf den Tisch legen. Das Land braucht eine Debatte über den Jugendschutz im Internet.

Ist ein solches Verbot nicht zu drastisch, weil es den freien Handel in unserer Marktwirtschaft einschränkt?

Hilgers: Es geht um eine Abwägung: Bestehen die Erwachsenen um jeden Preis auf ihre Freiheitsrechte beim Kauf von Alkohol und Tabak. Oder sind sie bereit, für Kinder und Jugendliche Zugeständnisse zu machen. Für uns steht außer Frage, dass der Jugendschutz Vorrang haben muss.

Viele Online-Händler geben Paketdiensten die Schuld. Ist das Argument stichhaltig, dass die Zusteller den Jugendschutz missachten?

Hilgers: Ich halte das für eine billige Ausrede. Wer so argumentiert, missachtet das geltende Recht. Wenn ein Händler seine Waren verschickt, ist er eindeutig dafür zuständig, dass der Jugendschutz eingehalten wird.

Als Familienministerin hatte Ursula von der Leyen 2007 einen Gesetzentwurf vorgelegt: Jugendliche Testkäufer sollten schwarze Schafe unter den Händlern herausfinden. Sind Testkäufe das richtige Mittel, um den Jugendschutz durchzusetzen?

Hilgers: Frau von der Leyen dachte damals noch nicht ans Internet. Testkäufe sind jederzeit richtig und wichtig. Sie weisen staatliche Behörden darauf hin, wer gegen den Jugendschutz verstößt. Nach unserer Auffassung darf ein Kind aber nicht selbst zum Agent provocateur gemacht werden. Straftaten zu provozieren sieht unser Rechtssystem nicht vor.

Die Einhaltung des Jugendschutzes müssen die Länder kontrollieren. Sind Sie dazu überhaupt in der Lage?

Hilgers: Es gibt ein großes Kontrolldefizit. Die örtlichen Behörden der Länder haben schon zu wenig Personal, um Kioske, Läden und Tankstellen wirksam überwachen zu können. Für den Versandhandel wäre eine Bundesbehörde nötig, die aber erhebliche Kosten verursachen würde. Auch deswegen hilft nur ein Versandhandelsverbot für Alkohol und Tabak weiter.

Müssen Verstöße gegen das Jugendschutzgesetz härter bestraft werden?

Hilgers: Der Gesetzgeber muss das Risiko für die Händler deutlich erhöhen, bestraft zu werden. Es sollte überprüft werden, die maximale Bußgeldhöhe von 50.000 Euro zu verdoppeln. Bei den Versandhandelsriesen und in besonders schweren Fällen sorgen nur empfindliche Strafen für ein Umdenken.

Welche flankierenden Maßnahmen sind neben Verboten nötig?

Hilgers: Wir sind uns bewusst, dass Jugendschutz heutzutage nicht allein über Strafen und Verbote funktioniert. Strenge Vorschriften sind notwendig, damit Werte vermittelt werden. Gerade Jugendliche finden allerdings Wege, um solche Vorschriften zu umgehen. Deshalb muss man sich dem Problem Alkohol und Rauchen auch verstärkt erzieherisch widmen. Eltern haben eine Vorbildfunktion: Sie sollten sich genau überlegen, welchen Umgang mit Alkohol sie vorleben. Aber auch der Freundeskreis, Nachbarn und Schule spielen eine wesentliche Rolle. Deshalb brauchen Eltern Unterstützung.

Wie können Suchtprävention und Pädagogik ineinandergreifen?

Hilgers: Im Elternhaus und in der Schule müssen Kinder lernen, zu Alkohol, Tabak, anderen Drogen und jugendgefährdende Medien Nein zu sagen. Darum führt unsere Organisation die "Hackedicht"-Schultour durch. Dabei zeigt ein Kabarettist Schulkindern, wie bescheuert es ist, sich zu betrinken oder zu rauchen. Auch den Lehrern und Eltern wird im Nachgang vermittelt, wie sie am besten auf auftretende Probleme reagieren. Dieses Projekt ist äußerst erfolgreich.