Seit 2011 gibt es den Bundesfreiwilligendienst. Was holprig startete, funktioniert jetzt. Aber: Ältere Menschen werden gebraucht.

Hamburg. Auf einmal weint die Frau. Ihre Lippen zittern, Tränen sammeln sich in ihren Augen. Ute Witte kommt zu ihr an den großen Tisch, legt eine Hand auf die Schulter der Frau, mit der anderen streicht sie über ihre Wange. "Nicht weinen", sagt Witte, "alles ist gut. Kommen Sie, wir spielen was!"

Witte setzt sich an den Kopf des Tisches, zehn Frauen im Raum hören ihr jetzt zu. Zumindest sollen sie es. Eine aber nickt ein, eine andere lächelt ins Nichts. Im Nebenzimmer hustet ein Mann, ein Zweiter wandert durch den Raum, sein Gesicht ist starr. Einige sitzen im Rollstuhl, können nur noch mit Mühe Kopf und Arme bewegen, andere trinken Tee, bald soll es Mittag geben.

Es ist ein Freitagvormittag im Wohnbereich 4 des Seniorenzentrums St. Markus in Eimsbüttel. Die Nummer vier steht für die Etage, hier leben Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Und deshalb macht Ute Witte heute mit ihnen eine Gedächtnisübung, Redewendungen raten. Sie zieht Karteikarten aus einer Box, liest vor: "Aller guten Dinge sind ..." Drei, antworten die Frauen im Chor. Ute Witte hat jetzt ihre Aufmerksamkeit. Da ist Hopfen und ... Malz verloren. Lachen ist die beste ... Medizin. Die Frau, die eben noch geweint hat, ist jetzt in ihrem Stuhl am Tisch eingeschlafen.

Ute Witte ist 71 Jahre alt. 30 Stunden in der Woche betreut sie im Seniorenzentrum demenzkranke Menschen. Sie hilft, weil sie es möchte. Und sie bekommt vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben dafür ein "Taschengeld", 350 Euro im Monat. Ute Witte ist eine Bufdi. Sie arbeitet beim Bundesfreiwilligendienst. Im Januar listete das Bundesamt fast 40.000 Bufdis in ganz Deutschland, 898 waren es in Hamburg. Ute Witte ist aktuell die einzige Frau über 65 Jahre in Hamburg, die den Dienst macht. Außer ihr gibt es nur noch einen Mann in ihrem Alter.

Der Zivildienst ist mit dem Ende der Wehrpflicht verschwunden. Eine Säule der sozialen Versorgung ist weggebrochen. Doch immer mehr Menschen benötigen Pflege und Betreuung. Rund 1,3 Millionen Menschen leiden derzeit unter Demenz, im Jahr 2050 werden es voraussichtlich 2,6 Millionen sein. Auch insgesamt steigt die Zahl der Pflegebedürftigen laut Gesundheitsministerium von 2,29 Millionen in 2010 auf 4,5 Millionen Menschen in 2050. Und junges Pflegepersonal wächst nicht mehr nach. Die Alten werden sich zunehmend selbst pflegen müssen.

Bis 2030 wird Deutschland weiter schrumpfen. Doch die Zahl der Menschen zwischen 60 und 75 Jahre wächst. Bald ist fast jeder Vierte in Deutschland in diesem Alter. Es wird vor allem auf Menschen wie Ute Witte ankommen, dass das Sozialsystem dieser Gesellschaft nicht auseinanderbricht.

Witte hat kurze Haare, trägt eine randlose Brille. Sie bindet sich ihre grüne Schürze um. Aus der Küche im Keller schiebt sie Rollwagen mit fertigem Essen in den Fahrstuhl. Heute gibt es Fisch mit Kartoffelbrei, zum Nachtisch Zimtrollen. Einige essen mit Messer und Gabel, andere werden von Ute Witte und ihren Kollegen gefüttert. Essen anreichen, sagen sie. "Kommen Sie", sagt Witte zu einer älteren Frau. Diese kneift die Lippen zusammen, sobald Witte den Löffel mit Brei zu ihrem Mund reicht. "Essen ist doch wichtig."

Vor 15 Jahren starb Wittes Mann. "Das hat mich runtergerissen." Sie begann eine Therapie, kam langsam wieder auf die Beine, malte viel nach Zahlen, hörte zu Hause laut Opern wie "Nabucco" oder "La Traviata". Witte arbeitete schon damals in der Altenpflege, war selbstständig. "Ich habe sogar Heidi Kabel in ihren letzten Jahren betreut." Irgendwann kam dann die Rente. Und Ute Witte fühlte sich wieder allein. Die Stille in der Wohnung, die fehlenden Gespräche. Und vor allem das Gefühl, alt zu sein, nicht mehr gebraucht zu werden. Dafür, sagt Witte heute, habe sie sich noch viel zu fit gefühlt. Es war in dieser Zeit, in der sie eine Dokumentation im Fernsehen sah, über eine Rentnerin, die jetzt Bufdi ist. Kurz darauf stand Witte im Eingang des Seniorenzentrums St. Markus, machte einen Termin mit dessen Leiter, zeigte ihm Lebenslauf und ihre Referenzen in der Altenpflege. Witte wurde "Bufdi".

Es war im Sommer 2011, als die letzten "Zivis" ihren Dienst absolvierten und die neuen "Bufdis" kommen sollten. Von Stolperstart war die Rede, Wohlfahrtsverbände warnten von Engpässen in der Pflege. Die Einrichtungen waren konfrontiert mit einem neuen Typ des Mitarbeiters - aber kaum jemand wusste etwas über seine Rechte und Pflichten: Erhält er Kindergeld? Welche Kosten bekommt sie erstattet, welche Betreuung müssen wir leisten?

Die Bewerberzahlen stiegen schnell an. Schon im Februar 2012 sind die vom Bund geförderten 35.000 Stellen in ganz Deutschland besetzt. Familienministerin Kristina Schröder sprach sogar von einer "politischen Sensation".

Doch ganz so groß ist der Jubel nicht überall. Für die sozialen Verbände war der Wegfall des Zivildienstes hin zum Freiwilligendienst ein Paradigmenwechsel. Die Träger müssen nun um Freiwillige werben - sie kommen nicht mehr per Gesetz zu ihnen. Der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) bietet den Leitern in den Einsatzstellen Seminare an, um die Attraktivität der Jobs für die ganz verschiedenen Freiwilligen nun besser aufzubauen. "Auch ungeliebte Aufgaben wie Kopierarbeiten oder Fahrdienste gehörten für Zivildienstleistende zu den alltäglichen Aufgaben", sagt Friederike Reif vom ASB in Hamburg. Der Freiwillige habe stärker den Anspruch, sozial und nah am Menschen zu arbeiten. Katrin Sambarth von der Diakonie in Hamburg fordert, dass die Regierung beim Bundesgesetz für die Freiwilligen auch noch einmal bestimmte Begriffe überprüfe. Einem 60-Jährigen ein "Taschengeld" zuzuweisen oder einen "Seminartag" anzubieten, stoße auf Ablehnung. Anders als beim Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ), das die Bundesländer selbst koordinieren, fehlten beim BFD "noch klare Qualitätsstandards für die pädagogische Begleitung des Dienstes", sagt Reif vom ASB. Da vom Bundesamt keine Vorgaben kamen, hat die Diakonie nun eigene Lernstandards und Ziele formuliert. Die sozialen Verbände müssen stärker als früher auch Dienstleister für ihre neuen freiwilligen Helfer sein.

Und es gelingt ihnen. Denn die Bewerberzahlen sind hoch. "Und wir haben noch Plätze frei", sagt Sambarth von der Diakonie. Allein 20 bei den Stellen für Menschen über 27 Jahre. Doch der Bund finanziert derzeit mit 254 Millionen Euro bundesweit 35.000 Plätze. Mehr nicht. Im Juli 2012 schickte der Hamburger Staatsrat Jan Pörksen einen Brief an das Familienministerium in Berlin. Um die "Motivation engagierter Bürger nicht zu enttäuschen und die Bedarfe der Einrichtungen zu decken", bat Pörksen im Namen des Senats, das Fördergeld des Bundes zu erhöhen. In seiner Antwort schrieb das Ministerium, dass etwa 100 Millionen Euro und ab 2013 rund 200 Millionen Euro nötig wären, um allen Bewerbern Plätze zu finanzieren. Doch die Haushaltspolitiker geben keine Mittel mehr frei. Darauf hatten sich alle Parteien im Bundestag geeinigt. Auch fordert der SPD-Senat in dem Brief, die Mindeststundenzahl zu reduzieren. Das Gesetz sieht 20 Stunden in der Woche vor. Vor allem ältere Menschen würde das abschrecken. Man werde zeitnah in Absprache mit den Ländern neue Regelungen prüfen, so das Ministerium.

Diakonie und ASB setzen auf ältere Menschen als freiwillige Helfer. Nur mit ihrer Erfahrung lasse sich dauerhaft das Angebot an Diensten aufrechterhalten, sagt Reif vom ASB. Ute Witte sagt: "Es ist vor allem der Austausch mit den jungen Menschen auf der Arbeit, der mich begeistert." Wenn sie im Seniorenzentrum Mittag essen oder Freierabend haben, quatschen sie noch, über das Kino, den Urlaub. Sogar zum Sport hätten die jungen Kollegen sie überredet. Zweimal in der Woche geht Witte jetzt zum Fitness bei "Mrs. Sporty". Die Diakonie hat ein Plakat mit einem Foto von Ute Witte gedruckt. Sie steht im Seniorenzentrum und hält eine Kiste mit Rasseln in der Hand. Manchmal macht sie gemeinsam mit den demenzerkrankten Menschen auch Musik. "Menschen über 27 Jahre engagieren sich in der Diakonie", steht auf dem Plakat. Freiwillig. Wenn Ute Wittes Dienst als "Bufdi" im August endet, bekommt sie vom Seniorenzentrum eine Stelle als Aushilfe, für 450 Euro im Monat.