70. Jahrestag der Schlacht: der Wendepunkt des Feldzugs

München. Der Gefreite Johann Rauchberg war erst 20 Jahre alt, als er mit der Maschinengewehr-Kompanie der 297. Infanterie-Division in die Schlacht von Stalingrad zog. Er sollte nie in seinen Heimatort Dachau zurückkehren. Seine Mutter Emilie suchte vergeblich nach ihm. Alles, was ihr blieb, war ein Gutachten mit dem Ergebnis: Ihr Sohn war wahrscheinlich gefallen - wie so viele mit ihm. "Wenn auf den langen Märschen durch den Schnee jemand liegen blieb, dann blieb der liegen", sagt Heinrich Rehberg, Leiter des Deutschen Suchdienstes des Roten Kreuzes in München. Der Suchdienst hat das Gutachten für Johann Rauchberg erstellt - wie für Millionen andere.

Es war ein mörderischer Eroberungsfeldzug, den die deutsche Wehrmacht mit der "Operation Barbarossa" im Sommer 1941 begann.

Rund 150.000 deutsche Soldaten fielen nach Schätzungen des Deutschen Historischen Museums bei Kämpfen im berüchtigten Kessel von Stalingrad oder kamen durch Kälte oder Hunger um. Weitere 91.000 gerieten in Kriegsgefangenschaft. Zurück nach Hause kamen nur 6000. Die Zahl der Toten und der Verletzten auf Seiten der Sowjetunion lag noch mal deutlich über den deutschen Verlusten.

Viele Deutsche verbinden mit dem Namen "Stalingrad" Scham für den verbrecherischen Krieg. Für die Nationalsozialisten bedeutet die vernichtende Niederlage den Wendepunkt: Der Angriffskrieg wird zum Verteidigungskrieg, der zwei Jahre später 2700 Kilometer weiter östlich in Berlin mit der totalen Niederlage endet.

Es sind vor allem die Russen gewesen, die im Zweiten Weltkrieg mit Millionen Opfern den Hitler-Faschismus in Deutschland besiegten. Vor allem deshalb ist Russland auch sieben Jahrzehnte nach dem Blutbad stolz auf seinen Sieg. "In die Geschichte unseres Vaterlandes ist die Schlacht um Stalingrad als eines der hellsten Kapitel eingegangen", sagt Präsident Wladimir Putin. Um welch hohen Preis der Triumph errungen wird, wagen russische Historiker erst seit dem Ende der Sowjetunion 1991 zu hinterfragen. Nicht nur Hitler, auch der Sowjetdiktator Josef Stalin opfert dem "Wahnsinn von Stalingrad" Hunderttausende Leben. Widerstand in der Truppe habe es nicht oft gegeben, da unter Stalin der Heldenkult extrem ausgeprägt gewesen sei, sagt der Militärhistoriker Sergej Leonow. "Befehlsverweigerer wurden erschossen."

Als die 6. Armee im August 1942 auf Stalingrad vorrückt, liegt der deutsche Angriff auf die Sowjetunion mehr als ein Jahr zurück. Doch die vollständige Eroberung der Stadt gelingt nicht, Mitte November kreist die Rote Armee den Feind ein. Am 2. Februar 1943 kapituliert die Truppe unter Generalfeldmarschall Friedrich Paulus.

"Das war unvorstellbar damals für die Leute, dass keiner mehr heimkommt", sagt Suchdienst-Leiter Rehberg. "Aber wenn man diese bösen Bilder aus Stalingrad anschaut, muss man sich eigentlich eher wundern, dass überhaupt jemand zurückgekommen ist." 1955 kamen die letzten Stalingrader wieder nach Deutschland, danach kam niemand mehr. "All die Mütter, die diese Soldaten aufgezogen haben, die hatten eigentlich etwas anderes vor mit ihren Kindern, als sie am Rande von Europa, da, wo Asien beginnt, für eine Ideologie zu opfern." Doch es war eine Ideologie, die viele von eben diesen Eltern unter Hitler mit aufgebaut hatten.

Bis heute ist das Schicksal der Hälfte aller deutschen Soldaten in Stalingrad dennoch ungeklärt. "Die sind verdorben und gestorben", sagt Rehberg und zeigt auf das Bild eines Leichenberges nach der Schlacht. "Da hat niemand mehr nachgeschaut. Wer sollte dort noch jemanden finden?" Millionen von Karteikarten lagern heute in den Archiven des Suchdienstes in München. Heute gibt es noch 1,2 Millionen ungelöste Fälle, sagt Rehberg, darunter zahlreiche aus Stalingrad. Er hat aber die Hoffnung, dass Tausende weitere in Zukunft, auch Jahrzehnte nach Kriegsende, noch geklärt werden können. Denn in den 1990er-Jahren hat der Suchdienst einen großen Schatz gefunden: nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion öffnete die neue Regierung die Archive. Etwa fünf Millionen Datensätze zu rund drei Millionen deutschen Kriegsgefangenen in Russland sind inzwischen in München angekommen.

Zum 70. Jahrestag der deutschen Kapitulation an der Wolga plant der Kreml eine pompöse Feier mit einer Konferenz sowie Salutschüssen und einem Feuerwerk rund um den Mamajew-Hügel. Dort erinnert die gigantische Betonskulptur "Mutter Heimat ruft!" seit 1967 an die Schlacht. Einen Tag lang wird die Stadt rund 1000 Kilometer südlich von Moskau zudem auf Wunsch von Veteranen symbolisch den Namen "Heldenstadt Stalingrad" tragen. "Stalingrad war ein Ort von Hass und Todfeindschaft", erzählt der Veteran Wassili Matenkow. Mittlerweile sei Wolgograd aber zu einem Symbol für Versöhnung geworden.