Am 19.11.1972 wählten die Deutschen Willy Brandt - den in Lübeck geborenen Sohn eines Hamburgers - ein zweites Mal zum Bundeskanzler.

Als der Bundeskanzler aus dem Rathaus tritt, fällt ein leichter Regen auf die bayerische Provinz herab. Drinnen hat Willy Brandt sich gerade in das Gästebuch eingetragen, draußen steht trotz des Wetters ein Kinderblasorchester, um für den hohen Besuch aus Bonn Musik zu spielen. Riesige Instrumente haben die Kleinen in der Hand. Vielleicht sieht das ein wenig grotesk aus, vielleicht findet Brandt das aber auch einfach nur charmant. Der Kanzler bleibt also stehen, hält den Kopf ein bisschen schräg, lächelt und lauscht. Sein Sicherheitsmann spannt einen Regenschirm über ihm auf.

Es ist Spätsommer 1972 und Willy Brandt tourt durch Kur- und Badeorte im Süden der damals noch geteilten Republik. Längst ist klar, dass seine sozialliberale Bundesregierung nicht mehr bis zum regulären Ende der Legislaturperiode ein Jahr später weiterregieren kann. Eine handlungsfähige Mehrheit war durch Übertritte eigener Leute zur opponierenden Union abhanden gekommen. Das Misstrauensvotum seines CDU-Herausforderers Rainer Barzel war im April an nur zwei Stimmen gescheitert. Brandts Bayernreise fällt in die Aufwärmphase zu jenem kurzen und heftigen Wahlkampf, der zum Höhepunkt der deutschen Nachkriegsdemokratie werden sollte. Eine Zeit voller Hoffnung. Eine Zeit voller Aufbruchstimmung, in der sich Hunderttausende Menschen quer durch alle sozialen Schichten aktiv an der Politik beteiligten. 91,1 Prozent der Deutschen gingen am 19. November 1972 an die Wahlurne. Nie waren es so viele. Nie wieder sollten es so viele werden.

In genau diesen Sekunden, in denen der Bundeskanzler im Spätsommer 1972 dem Tschingderassabum der Kinder mit ihren großen Trompeten und Posaunen zuhört, entsteht dieses eine Foto. "Ich habe gesehen, wie sich etwas in seinem Gesicht verändert hat. Er bekam auf einmal so ein verklärtes Lächeln, das man selten an ihm gesehen hat", erinnert sich Harry Walter, seinerzeit Chef der Werbeagentur ARE. Er drückt schnell auf den Auslöser seiner Kamera. Das Foto wird, nachdem Brandts Vertrauensfrage wie geplant am 22. September scheitert, hunderttausendfach auf alle Plakate, Broschüren und Flugblätter gedruckt. Alle sind sich einig: Dieses, und nur dieses eine Foto muss es sein. "Da gab es keine Diskussionen", sagt Albrecht Müller, 74, Brandts damaliger Wahlkampf-Manager. "Das Foto entsprach einfach seinem Wesen, wir haben es nicht verändert oder retuschiert. So, wie er darauf aussah, haben wir ihn alle empfunden." Walter, heute 84 Jahre alt, sagt: "Ein Siegerbild."

Um Emotionen und Empfindungen geht es viel, wenn jene, die die Zeit intensiv erlebt haben, von ihrem Kanzler sprechen. Zwar hat das Foto die Gefühle Brandts eines kurzen Momentes eingefangen. Es war auch Projektionsfläche für die Gefühle seiner Anhänger so wie Brandt selbst. An jenem Wahlsonntag vor 40 Jahren stimmten die Deutschen nicht nur für die Ostpolitik oder für sozialpolitische Reformen der rot-gelben Koalition. "Willy-Wahl" wird die Bundestagswahl 1972 heute noch genannt, nicht nur wegen der wohlklingenden Alliteration, sondern auch weil der Kanzler so viele faszinierte. "Wenigen Politikern ist es je gelungen, Menschen so mitzureißen, wie er es konnte", sagte Bundespräsident Johannes Rau im Jahr 2002, ein Jahrzehnt nach Brandts Tod. "Von seinen Anhängern wurde er verehrt wie kaum jemand sonst." Auch für ihn, Rau, habe das gegolten. "Ich war dabei, ich habe ihn mitverehrt." Doch so wie in einem bayerischen Kurbad in einem zufälligen Moment ein Werbefoto entstand, das eigentlich keines war, stand auch die Außenwahrnehmung des Kanzlers in Widerspruch zu dem Menschen, den seine Vertrauten erlebten. "Die Leute haben Brandt so gesehen, wie er nicht war. Er war nicht die Ikone und Lichtgestalt, zu der sie ihn stilisiert hatten", sagt die ehemalige ZDF-Journalistin Wibke Bruhns heute, die Brandt zu dieser Zeit begleitet hat. "Das ist alles Quatsch." Wahlkampf-Manager Müller glaubt, die Mystifizierung Brandts als Heilsbringer sei zu einem großen Teil eine Erfindung der Presse. Sicher, die Leute mochten ihn, haben bei seinen Reden zu ihm aufgeschaut. Aber eigentlich war er doch ganz normal.

Der spätere Bundeskanzler kommt als Herbert Frahm am 18. Dezember 1913 in Lübeck auf die Welt, Sohn einer Verkäuferin, der aus Hamburg stammende Vater ist ihm zunächst unbekannt. Die uneheliche Geburt wird ihm im Wahlkampf von konservativer Seite als Makel ausgelegt, ebenso seine Emigration nach Norwegen 1933 und das Tragen einer norwegischen Uniform. Als "Vaterlandsverräter" wird er deshalb beschimpft, sein kurz vor dem Exil angenommener Name Willy Brandt wird ihm als Tarn- und Agentenname unter die Nase gerieben. Es sind solche Attacken der Union, die junge Leute wie seinerzeit Wibke Bruhns dazu veranlassen, Brandt zu unterstützen. "In meinen Augen war hier eine Politikerbiografie, die sich absetzte gegen die altvorderen Nazis. Dem Mann wollte ich helfen", schreibt die heute 74-Jährige in ihrem Buch "Nachrichtenzeit". Ihre Empörung über die "rabiaten Wahlkampfmethoden der Union" hätte anfangs sogar ihr Interesse an den eigentlichen Inhalten überdeckt. Auch Albrecht Müller hält diesen Aspekt bis heute für unterschätzt. Er glaubt, dass die Angriffe und die Haltung der Konservativen für viele Menschen einen großen Mobilisierungseffekt gehabt haben, mindestens so groß wie Ost- und Reformpolitik oder die Persönlichkeit Brandts.

Doch die starke Polarisierung trennte nicht nur SPD und Union. Für eine ganze Generation ist Friedensnobelpreisträger Willy Brandt zu einem Symbol für eine Zäsur geworden. Eine Generation, die den Mief der Adenauer-Zeit abschütteln will und gegen das Diktum von Recht und Ordnung protestiert, gegen die Spießigkeit der Elterngeneration und deren Weigerung, sich mit Nazideutschland auseinanderzusetzen. Sein Verständnis für die demonstrierende Jugend ist Brandt übel genommen worden, sagt Müller, "auch weil sein eigener Sohn Peter in Berlin demonstriert hat". Dafür habe er aber wiederum auch das Verständnis der jungen Leute gehabt. "Vor allem Mütter fanden das an ihm gut."

Was auch gut gefunden wurde, war Brandts Aufforderung zum Mitmachen. "Wir wollen mehr Demokratie wagen", hat er in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler 1969 gesagt. Alle sollten dabei sein, und viele haben ihn gerade vor der Wahl beim Wort genommen und engagierten sich am Wahlkampf, entweder in der Partei in Wählerinitiativen. "Eine Hauptursache für den Wahlsieg der SPD", bilanziert Müller heute. Unzählige "Willy wählen" - oder "Bürger für Brandt"-Buttons sind im Umlauf, die Leute kleben sich "Ich bin für Willy"-Aufkleber aufs Autoheck. Auf der Straße wird über Politik diskutiert - nicht zuletzt als Reaktion auf jene anonyme, breit gestreute Anzeigenkampagne zugunsten der Union, die Brandt wegen seiner Vergangenheit diffamiert. "Das große Geld" nennt Müller diese Werbeschiene, hinter der er vor allem Unternehmen, Industrie und konservative Großverlage - auch den Verlag Axel Springer - ausmacht. Das kommt an im Unterstützermilieu.

Auch ZDF-Frau Bruhns ist für Brandt in diesen Wochen unterwegs. "Der Wahlkampf war eine anstrengende Zeit, ich bin kreuz und quer durch Deutschland gefahren und habe überall bei Veranstaltungen von Wählerinitiativen geredet und die Fragen der Leute beantwortet", erzählt sie. Persönlich lernt sie den Kanzler erst kennen, als sie zwei Tage vor der Wahl die Abschlusskundgebung in Bonn moderiert. 954 394 Parteimitglieder hat die SPD zu diesem Zeitpunkt, mehr als 150 000 Menschen treten ihr in dieser Phase bei. Manche von ihnen machen Karriere: Kurt Beck, damals 23 Jahre alt, ist heute Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz. Klaus Wowereit war erst 19, als er im Wahljahr ein Parteibuch bekam. Wie sein Vorbild Brandt es 1957 bis 1966 war ist er heute Regierender Bürgermeister von Berlin. Zu Brandts Massenkundgebungen kommen jedes Mal Zehntausende. Sie erleben den Kanzler als zugewandt, glaubwürdig. Als ein Redner, der trotz vorliegendem Text mit den Worten ringt, weil er zeigen will, wie wichtig sie ihm sind.

Brandt habe Johannes Rau einmal sein Geheimnis verraten, wie der Bundespräsident 2002 berichtet: "Ich suche mir im Saal immer zwei aus, oder auf dem Marktplatz. Und mit deren Augen beginne ich einen Dialog." So lautet Brandts Rezept. Und so fühlt sich jeder angesprochen. Prominente Unterstützer wie Schriftsteller Günter Grass. Oder der Arbeiter von nebenan. Erst recht, als dem Kanzler das englische Wort für Mitgefühl, "compassion" in die Manuskripte geschrieben wird. Bruhns sagt: "Vor den Massen konnte er reden. Wenn er aber im kleinen Kreis war, konnte er damit nicht umgehen. Das war ihm zu dicht, und er hatte immer die Sorge, er würde persönlich belästigt." Ein Widerspruch zwischen Schein und Sein. Aber kein schlechter, wie Bruhns befand. "Er hat die Menschen dazu gebracht, sich für Politik zu interessieren und sich für Demokratie und Staat einzusetzen", sagt sie. "Das war eine tolle Zeit. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten so etwas noch einmal wiederbekommen."

Nach der Wahl liegt die SPD bei 45,8 Prozent, die Union bei 44,9. Kein Riesenvorsprung, aber es reicht. Brandt kann Kanzler bleiben, ein Rekordergebnis für die SPD bis heute. Und dann die sagenhafte Wahlbeteiligung. Da waren sie alle überrascht. Dass Brandt schon anderthalb Jahre später wieder zurücktreten sollte, ahnt man noch nicht.

Als Bruhns nach ihrer ZDF-Zeit im Dienste des "Sterns" für ein Porträt das Geheimnis der Person Brandt ergründen soll, beißt sie auf Granit. "Man kam an diese Person nicht ran, nicht nur ich, niemand", schreibt sie. Was verewigt sei über den Menschen Brandt, sei wenig "und es ist viel Projektion dabei." Wer ihn kennenlernte, war mitunter enttäuscht, "wenn der Mensch Brandt dem Bild Brandts nicht entsprach".

Er sei anders gewesen, als die Leute ihn sich gestrickt hatten. Brandts dritte Ehefrau Brigitte Seebacher hat ihn im Jahr 2004 einen "Mystiker und Melancholiker" genannt, einen, der sich "nicht vereinnahmen" ließ. "Entrückt" - auch das ist ein Wort, das im Zusammenhang mit Brandt fällt. Nach dem Wahlsieg 1972, als langsam sein politischer Abstieg beginnt, nennen ihn manche "Willy Wolke". Nicht mehr auf dem Boden der Tatsachen, zu sehr eingenommen von dem Bild, was die Menschen ihm zuschreiben.

Harry Walter kann das Wahlkampffoto, das er im Spätsommer 1972 unter bayerischem Nieselregen schoss, noch heute bis ins kleinste Detail aus der Erinnerung beschreiben. Der Moment hat sich in sein Gedächtnis gebrannt. Die Kinder, die Trompeten, gütige Lächeln in Brandts Gesicht. Auch ihm, der Brandt nahe war, kommt dann so ein Satz über die Lippen. "Brandt ist auf einmal ein bisschen abgehoben und hat in die Unendlichkeit geguckt."