Schon über 17 000 Mediziner praktizieren fern der Heimat. Sie fliehen vor Bürokratie und Stress, hoffen auf mehr Anerkennung und besseres Wetter. Das Abendblatt traf drei Grenzgänger mit Doktortitel

Arbeiten, wo andere Urlaub machen. Unter spanischen Palmen liegend das Wochenende genießen oder an der Schweizer Après-Ski-Bar den Feierabend-Cocktail trinken. Sind es Klischees, die immer mehr deutsche Ärzte ins Ausland treiben? Oder ist es die Desillusionierung über einen Beruf, dessen eigentliche Intention - Menschen zu helfen - in den Hintergrund rückt, während Bürokratie und das Arbeiten unter Zeitdruck zunehmen?

Fakt ist: Noch nie sind so viele Ärzte aus Deutschland abgewandert wie im vergangenen Jahr. 3410 Mediziner suchten 2011 ihr berufliches Glück fernab der Heimat. Sechs Jahre zuvor - erst seit 2005 erfasst die Bundesärztekammer die abwandernden Ärzte - waren es noch 2249 Mediziner gewesen. Ein Anstieg um 52 Prozent innerhalb von sechs Jahren. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) waren im Jahr 2010 knapp 17 000 deutsche Ärzte im Ausland tätig (Stand 2010).

Dr. Robert Winkler, 49, ist einer von ihnen. Seit neun Jahren lebt der Kinderarzt und Allergologe auf der Mittelmeerinsel Ibiza, führt in Ibiza-Stadt seine eigene Praxis. Eine Rückkehr nach Deutschland ist für ihn undenkbar: "Dort fühle ich mich wie ein Sklave. Medizin im Fünf-Minuten-Takt mit Patienten, die häufig nur Nehmer-Qualitäten zeigen, frustriert auf Dauer zu sehr."

Das war für ihn der wichtigste Grund auszuwandern. "Ohne Netz und doppelten Boden" die gewohnte Umgebung für immer zu verlassen, das verlange viel Durchhaltevermögen, sagt er. Eine Erfahrung machte Winkler sehr schnell: "Nirgends wird man deutscher als im Ausland." In der Heimat funktioniere alles reibungsloser, in Spanien lebten viele Menschen mit einer Laissez-faire-Mentalität, die ihn anfangs extrem gestört habe: "Aber wenn man den neuen Aspekten auch etwas Positives abgewinnen kann, lohnt es sich."

Sechs Stunden täglich arbeitet der gebürtige Kölner in seiner Praxis. Zudem hat er Belegbetten im Krankenhaus der Stadt. Winkler muss sich weder mit Krankenkassen noch mit einer Kassenärztlichen Vereinigung um Budgets und Regelleistungsvolumen streiten. Das spanische Gesundheitssystem fußt auf einer Basisversicherung, die eine Behandlung in bestimmten Krankenhäusern und Polikliniken bezahlt. Freie Arztwahl gibt es nicht - es sei denn, der Patient bezahlt die Rechnung selbst oder hat eine private Zusatzversicherung. "Diesen Patienten gebe ich nach der Behandlung eine Rechnung mit. Das war's." Finanziell muss sich der dreifache Familienvater keine Sorgen machen. Zwar spürt auch er die Auswirkungen der spanischen Wirtschaftskrise: "Aber ich liege immer noch etwa eineinhalb Mal über dem durchschnittlichen Einkommen eines deutschen Kinderarztes."

Winkler hält weltweit Kontakte zu anderen deutschen Kollegen im Ausland, erst vor wenigen Monaten half er beim Aufbau eines medizinischen Kinderzentrums in Dubai mit. Damit seine Frau ihre Facharzt-Ausbildung beenden kann, plant die Familie jetzt einen weiteren Umzug ins Ausland. Sobald die Praxis verkauft ist, geht es in die Schweiz, nach Australien oder Neuseeland. Deutschland stehe nicht auf ihrer Wunschliste, auch wenn sie ihre deutschen Freunde manchmal vermissen: "Die Lebensqualität ist woanders einfach besser", sagt er.

Das beliebteste Zielland deutscher Mediziner ist derzeit die Schweiz - dorthin wanderten nach Angaben der Bundesärztekammer im vergangenen Jahr 715 deutsche Ärzte ab. Es folgen Österreich (302), die USA (183) sowie Großbritannien (136). Die meisten Ärzte stammten aus Hessen, Bremen und Niedersachsen. "Viele sind mit ihrem Status im Gesundheitssystems unzufrieden, manche wollen einfach etwas Neues kennenlernen, und einige lockt das Geld ins Ausland", sagt Frank Herbst von der Leipziger Firma MEDICmove. Seit mehr als zehn Jahren vermittelt er Ärzte innerhalb Deutschlands aber auch ins Ausland. Anders als Robert Winkler kennt er viele deutsche Ärzte, die irgendwann in die Heimat zurückkehren. Herbst schätzt den Anteil auf 30 bis 50 Prozent: "Das hängt mit enttäuschten Hoffnungen zusammen. Dann überwiegt das Heimweh die beruflichen Vorteile."

Und auch für die Länder, in die deutsche Ärzte auswandern, ist das nicht immer eine optimale Lösung. In den Schweizer Kliniken sind derzeit zwar etwa 40 Prozent der Assistenz- und Oberarztstellen durch junge deutsche Mediziner besetzt. Die Versorgungslücke bei den Hausärzten aber sei mit ausländischen Medizinern nur schwer zu schließen, sagt Dr. Marc Müller, Präsident des Hausärzteverbandes in der Schweiz. "Wir haben zu wenig Hausärzte und das Durchschnittsalter beträgt 57 Jahre. Die deutschen Kollegen, die bei uns Praxen übernehmen, sind aber oft ebenfalls schon um die 55 Jahre alt." Die Einwanderung weiterer Fachkräfte sei daher keine sehr zukunftsträchtige Lösung: "Wir brauchen mehr Medizinstudenten, Institute für Hausarzt-Medizin und bessere Arbeitsbedingungen." Zudem gebe es auch eine ethische Komponente: "Eigentlich müssten wir reichen Länder doch genügend Ärzte ausbilden und sie dann in Länder schicken, in denen die medizinische Ausbildung schlechter ist", sagt Müller.

Dr. Karola Simoni, 43, ist da vielleicht ein gutes Beispiel. Die deutsche Fachärztin für Kinderheilkunde und Allgemeinmedizin lebt und arbeitet im Urlaubsort Costa Calma auf Fuerteventura, der zweitgrößten der Kanarischen Inseln. Ihr Einkommen verdient sie in einer Gemeinschaftspraxis mit drei Kollegen, die an sechs Tagen in der Woche geöffnet hat. In ihrer Freizeit aber hilft Karola Simoni kostenlos afrikanischen Flüchtlingen, die oft völlig entkräftet in überfüllten Booten an Fuerteventuras Stränden landen. "Ich kann da nicht drüber weggucken", sagt sie. "Schon gar nicht als Ärztin."

Ihr Arbeitspensum ist enorm: täglich bis zu zwölf Stunden, vor Praxisöffnung behandelt sie Patienten in zwei Hotels. Ihr Handy ist rund um die Uhr angeschaltet. "Ich arbeite genauso viel wie in Deutschland und verdiene auch nicht mehr", sagt Karola Simoni. Warum ist sie dann ins Ausland gegangen? "Der Unterschied ist, dass ich hier mein berufliches Selbstwertgefühl haben darf." Die aktuelle Debatte über die Arzthonorare in der alten Heimat hat bei ihr Mitleid mit ihren deutschen Kollegen ausgelöst: "Dass hochqualifizierte Ärzte so um ihr Einkommen betteln müssen, ist unglaublich." Ihre spanischen Patienten dagegen wüssten um die gute Ausbildung, die ein deutscher Mediziner absolviert habe, und würden sich entsprechend verhalten.

Ein weiterer wichtiger Grund, Deutschland zu verlassen, war, dass Karola Simoni auf Fuerteventura ausgiebig ihren Hobbys auf und im Wasser nachgehen kann. Wer auf die Insel umziehe, sei meist ein Wassersport-Freak "Wir sind das alle." Oft fährt sie nach Arbeitsschluss oder am Wochenende mit der ganzen Familie und mit Freunden an den Strand und wirft sich mit dem Surfbrett in die Atlantikwellen.

Aber es herrscht nicht eitel Sonnenschein im Wassersportparadies. Auch auf Fuerteventura gebe es berufliche Machtkämpfe und eine bisweilen überbordende Bürokratie: "Wir konkurrieren mit den öffentlichen Gesundheitszentren und den Krankenhäusern." Die Folge: Wenn sie eine Auskunft über einen Patienten braucht, bekomme sie oft keine oder erst nach langer Verzögerung eine Antwort. "Als Deutscher braucht man hier viel Geduld und eine hohe Frustrationstoleranz", sagt Karola Simoni. Die Mentalität unterscheide sich stark von der deutschen - einheimische Patienten seien selten pünktlich, und es funktioniere nicht alles so reibungslos wie in der alten Heimat. Zudem habe die spanische Steuerbürokratie seit der Wirtschaftskrise massiv zugenommen. "Überall wird nach versteckten Geldern gesucht." Es herrsche großes Misstrauen, die Fremdenfeindlichkeit habe zugenommen.

Und weil das Schulsystem auf den Kanaren nach Ansicht der Medizinerin und ihres Mannes schlechter ist als das deutsche, besucht die 15-jährige Tochter mittlerweile ein Internat bei Würzburg. Dort soll sie das deutsche Abitur machen. Der Teenager vermisst die Insel und das warme Klima. Ihre Mutter auf der Sonneninsel dagegen sehnt sich mittlerweile nach den Jahreszeiten in Deutschland, nach "einem Spaziergang im dicken Pulli und in Gummistiefeln, die im Matsch quietschen".

Bei Dr. Hans Christian Greger, 62, überwog letztlich das Heimweh. Aber er ging den umgekehrten Weg: Nach mehr als zwei Jahrzehnten in Deutschland ging er zurück ins österreichische Tannheim in Tirol: "Mehr Geld, mehr Freizeit und weniger Bürokratie waren für mich Anreiz genug." Das war seine Motivation für diesen Schritt, die eben auch für viele seiner deutschen Kollegen gilt, die es ins Ausland zieht. Der gebürtige Österreicher war in den 1980er-Jahren nach Hamburg gekommen, studierte Allgemeinmedizin und arbeitete am Israelitischen Krankenhaus in Barmbek. Später machte er sich selbstständig, bis er 1994 beschloss, nach Tirol zurückzukehren. Das Tannheimer Tal gilt als Urlaubsparadies für Wanderer und Skifahrer.

Einen großen Vorteil des österreichischen Gesundheitssystems gegenüber dem deutschen sieht Hans Christian Greger in der straffen Organisation mit kurzen bürokratischen Wegen. Die Kassenverträge schließe er direkt mit den Kassen, das System sei unkompliziert: "Ich fahre zu den Kassen, unterschreibe meinen Vertrag und rechne nach Behandlung direkt mit ihnen ab." Seine berufliche Existenz ruht auf mehreren Säulen. Als Allgemeinmediziner behandelt er durchschnittlich 1400 bis 1500 Patienten pro Quartal. In seine Landarzt-Praxis ist eine Apotheke eingebunden. Für Sportunfälle steht ein Röntgengerät bereit. Mit zwei Kollegen teilt Greger sich die 24-Stunden-Rufbereitschaften und bekommt dafür - egal, wie häufig er rausgerufen wird - ein monatliches Pauschalhonorar in vierstelliger Höhe. Und die Absprache mit seinem Kollegen garantiert, dass er genügend Zeit zum Wandern hat. So könne er gut mit den 24-Stunden-Diensten leben, die er an mehreren Tagen im Monat leisten muss.

Die Zukunft der Ärzte in seiner ehemaligen Wahlheimat Deutschland sieht Greger eher düster. "Der ganze bürokratische Apparat mit den Krankenkassen, Verbänden und Institutionen ist zu kompliziert", sagt er. Vieles davon - so Gregers Eindruck habe sich verselbstständigt und existiere mittlerweile um seiner Selbst willen: "Dieser gordische Knoten muss gelöst werden." Und dann sei vielleicht ein wichtiger Grund beseitigt, warum viele deutsche Ärzte lieber im Ausland arbeiten.