Wirtschaftsweise sprechen sich für neue Steuerungsinstrumente für den Arztbesuch aus. Aussichten für die Konjunktur in Deutschland bleiben gut.

Berlin. Die Praxisgebühr ist von 2013 an Geschichte - doch das ist nicht nach dem Geschmack und der Expertise Deutschlands führender Wirtschaftsexperten. Die Gutachter im Auftrag der Bundesregierung kritisierten die Wohltaten, die die schwarz-gelbe Regierungskoalition beschlossen hatte. Das Bundeskabinett hat, ebenfalls begleitet von massiver Kritik aus der Wirtschaft, die Abschaffung der Praxisgebühr zum 1. Januar beschlossen. Vizekanzler Philipp Rösler sagte, nach acht Jahren sei damit "der Spuk vorbei". Die Wirtschaftweisen forderten dagegen neue Steuerungsinstrumente in den Arztpraxen.

Das Aus für die Zehn-Euro-Abgabe pro Quartal soll schon am Freitag vom Bundestag besiegelt werden. Dazu wird das Vorhaben als Änderungsantrag an das Gesetz zur Assistenzpflege angekoppelt. Auch SPD, Grüne und Linkspartei sind für den Wegfall der Gebühr, die seit 2004 bei jedem ersten Arzt- und Zahnarztbesuch im Quartal fällig wird. Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr sagte, die Koalition sende mit der Abschaffung der Gebühr ein starkes Signal zur Entlastung der Bürger sowie zum Bürokratie-Abbau. Zudem bekämen die Ärzte wieder mehr Zeit für die Behandlung der Patienten. Der Wirtschaftssachverständigenrat bezeichnet es in seinem Jahresbericht zwar als zutreffend, dass die Praxisgebühr die angestrebte Lenkungswirkung nicht im erhofften Ausmaß entfaltet hat. Anstatt jedoch über ihre Abschaffung zu diskutieren, "sollte vielmehr darüber nachgedacht werden, wie diese zielführend weiterentwickelt werden kann", erklärten die Wirtschaftsweisen. Nach Ansicht der Ökonomen könnte etwa je Arztbesuch eine geringere Gebühr als bisher bis zu einer Belastungsobergrenze erhoben werden.

Auch Arbeitgeberpräsident Hundt bezeichnete die Abschaffung der Praxisgebühr als schweren Fehler. Der Schritt sei keine Entlastung der Versicherten, sondern eine Verschiebung der Gesundheitskosten zulasten aller Beitragszahler, sagte er der "Welt".

Die fünf Wirtschaftsweisen bemängelten generell: "In die falsche Richtung gehen strukturelle Mehrausgaben, wie etwa das Betreuungsgeld, die Zuschussrente oder die Abschaffung der Praxisgebühr", heißt es im Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Bei der Haushaltskonsolidierung sei deutlich mehr Ehrgeiz notwendig, verlangten sie. Hohe Steuereinnahmen, geringe Zinskosten und Minderausgaben der Bundesagentur für Arbeit hätten die öffentlichen Haushalte zuletzt entlastet. "Hingegen sind die staatlichen Konsumausgaben überproportional gestiegen." Auf Dauer könnten Bund und Länder nicht auf Sonderfaktoren bauen. Zudem kämen demografisch bedingte Mehrausgaben auf die öffentlichen Haushalte zu.

Das Gutachten sieht im Inland zudem Handlungsbedarf in der Energiepolitik und im Gesundheitssystem, wie der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Wolfgang Franz, bei der Übergabe an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und weitere Minister sagte. So wollten die Wirtschaftsweisen das Erneuerbare-Energien-Gesetz durch ein "marktwirtschaftliches Quotenmodell" ersetzen und die gesetzlichen Krankenkassen stärker einkommensunabhängig finanziert sehen.

Bundeskanzlerin Merkel sprach sich bei der Annahme des Gutachtens gegen eine Zentralisierung der wirtschaftspolitischen Steuerung in Europa aus. Sie befürwortete direkte Absprachen zwischen den Regierungen und sagte, "dass das die Nationalstaaten in eigener Hoheit machen müssen". Die Bundesregierung stimme nicht mit allen von den Wirtschaftsweisen vorgeschlagenen Maßnahmen überein.

Die deutsche Konjunktur wird nach Einschätzung der Experten bald wieder etwas anziehen. Der Tiefpunkt der wirtschaftlichen Dynamik in Deutschland werde voraussichtlich im vierten Quartal 2012 erreicht. Die Wirtschaftsleistung werde im laufenden vierten Quartal stagnieren und im neuen Jahr wieder leicht wachsen. Insgesamt soll sich das Bruttoinlandsprodukt in diesem und kommenden Jahr jeweils real um 0,8 Prozent erhöhen. Die Verbraucherpreise zögen jeweils um 2,0 Prozent an.

Die Entwicklung am Arbeitsmarkt sehen die Wirtschaftsweisen weiter positiv. Sie rechnen für das kommende Jahr mit einem Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen um 176 000 auf 41,7 Millionen. Allerdings werde 2013 auch die Zahl der registrierten Arbeitslosen um 18 000 auf etwas mehr als 2,9 Millionen steigen, hieß es. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote werde in diesem Jahr bei 6,8 Prozent und im nächsten Jahr bei 6,9 Prozent liegen.

Derweil wurde bekannt, dass die Spitzen der Regierungskoalition wahrscheinlich vor Weihnachten erneut tagen, aber nicht wie von der FDP angekündigt am 22. November. "Das ist nicht zutreffend", sagte der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter zu einer Äußerung von FDP-Generalsekretär Patrick Döring. Der Koalitionssausschuss habe vereinbart, sich regelmäßig möglichst vor den Sitzungen des Bundesrats zu treffen. Das werde aber im November und Dezember nicht möglich sein, weil Bundeskanzlerin Angela Merkel jeweils auf EU-Gipfeln in Brüssel sei.