Die alevitische Minderheit ruft zur Demonstration gegen Erdogan auf. Dessen Politik isoliere türkische Jugendliche in Deutschland.

Berlin. Mehrere tausend Menschen haben sich am Mittwoch vor dem Brandenburger Tor in Berlin versammelt, um gegen die Politik des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan zu demonstrieren. Anlässlich des zweitägigen Deutschland-Besuches Erdogans erwartete die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF), die die Protestkundgebung organisiert, nach eigenen Angaben mindestens 10.000 Demonstranten. Am Vormittag waren es zunächst rund 2000 Demonstranten.

70 Busse aus dem gesamten Bundesgebiet wollten unter anderem nach Berlin kommen, sagte AABF-Generalsekretär Ali Dogan am Mittwoch. 44 Organisationen unterstützen die Kundgebung. Ein Ziel der Demonstranten sei es, gegen den ihrer Meinung nach falschen Integrationsansatz Erdogans zu protestieren, sagte Dogan. Dieser schaffe „Isolationsgesellschaften“. Die Alevitische Gemeinde bezeichnete Erdogan als „Architekten einer Parallelgesellschaft unter türkischen Jugendlichen in Deutschland“. Weitere Kritikpunkte der Aleviten an dem türkischen Ministerpräsidenten sind, dass Erdogan in der Türkei die Menschenrechte verachte und ein Feind von Kurden und Andersgläubigen sei.

Polizei und Aleviten-Gemeinde gingen am Morgen von einer friedlichen Kundgebung aus. Der offizielle Anlass des Besuches des türkischen Ministerpräsidenten in Berlin war die Eröffnung der neuen türkischen Botschaft im ehemaligen Diplomatenviertel in Tiergarten am Dienstagabend. Bereits am Dienstag hatten sich knapp 20 Demonstranten anlässlich eines Vortrags von Erdogan am Pariser Platz versammelt, um friedlich gegen Erdogans Politik zu demonstrieren.

Erdogan hatte am Dienstag in Berlin die neue türkische Botschaft eröffnet. Erdogan forderte bei der Botschaftseröffnung mehr Anstrengungen zur Integration. „Wir wollen, dass die Türken in Deutschland fließend Deutsch sprechen“, sagte er. „In diesem Sinne müssen sie Doppelsprachler sein und sich mehr und mehr am Leben beteiligen.“ Nach fast 70 Jahren erhielt die Türkei damit wieder eine Vertretung im historischen Botschaftsviertel der Hauptstadt.

Ein Streitthema zwischen Berlin und Ankara ist das Thema Kurden. Erdogan wirft Deutschland und Frankreich vor, nicht entschlossen genug gegen Anhänger der als terroristisch eingestuften kurdischen PKK vorzugehen. Auch die angestrebte, aber in weite Ferne gerückte EU-Mitgliedschaft der Türkei dürfte zur Sprache kommen.

Außenminister Guido Westerwelle sprach sich in seinem Grußwort für eine weitere Annäherung zwischen der Türkei und der Europäischen Union (EU) aus. Der Stillstand in den Beitrittsverhandlungen seit zwei Jahren sei für beide Seiten nicht gut. Im kommenden Jahr solle hier ein „neuer Anfang“ gemacht werden. Die Türkei habe viele Reformen verwirklicht. „Viel bleibt zu tun, aber wichtige Etappen sind geschafft“, sagte Westerwelle.

Bei einer europapolitischen Rede bekräftigte Erdogan am Abend das Ziel eines EU-Beitritts seines Landes. „Wir bereiten uns darauf vor, dass wir Vollmitglied in der EU werden.“ Als Problem benannte er allerdings die Zypern-Frage – die Türkei erkennt das EU-Mitglied Zypern nicht an. Selbstbewusst bot der türkische Regierungschef auch Hilfe in der Euro-Krise an. „Wir erstarken von Tag zu Tag“, sagte er. Die Türkei werde jeden Beitrag leisten, damit die Euro-Krise überwunden werden könne. Sein Land werde keine Belastung für die EU sein. „Wir kommen, um Last zu übernehmen“, sagte Erdogan.

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir warnte davor, der Türkei einen EU-Beitritt zu verwehren. „Wir sind jetzt in einem Stadium, in dem es wichtig ist, den Prozess am Laufen zu halten“, sagt er der „Schwäbischen Zeitung“ (Mittwoch). „Wir können kein Interesse daran haben, dass sich in der Türkei die falschen Kräfte durchsetzen.“ Mit ihrer Größe und Wirtschaftskraft könne sich die Türkei leicht überschätzen – die EU könnte sie davor bewahren.

Auch Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin forderte die Bundesregierung zum Kurswechsel in der Türkei-Politik auf. In einem Gespräch mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (Mittwoch) sagte er: „Die Türkeipolitik von Frau Merkel bedarf einer grundsätzlichen Überprüfung.“ Die Türkei unter Erdogan habe sich im Vergleich zu der Zeit vor 15 Jahren „erheblich zum Positiven“ verändert.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) trifft auch heute Erdogan zusammen. Im Mittelpunkt des Gesprächs im Kanzleramt dürften der Bürgerkrieg in Syrien und die Lage der syrischen Flüchtlinge stehen. In der Türkei sind bisher mehr als 100.000 syrische Flüchtlinge angekommen. Die Bundesregierung ist der Ansicht, dass den Flüchtlingen am besten in der Region geholfen werden kann. Berlin hat dafür über 50 Millionen Euro an humanitärer Hilfe zur Verfügung gestellt. Die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland wird nicht ausgeschlossen, wenn es dafür ein internationales Übereinkommen gibt.