Hamburgs Erster Bürgermeister erklärt, wie die SPD in Metropolen punkten kann. Jedoch nicht alle Genossen sind begeistert.

Berlin. Eigentlich fängt für Olaf Scholz alles ganz gut an. Der Hamburger Bürgermeister steht auf dem Podium im BCC, dem Berliner Congress Center am Alexanderplatz - und er hält eine Rede, auf die seine Genossen in der Hauptstadt bei ihrem Landesparteitag gewartet haben: die Europapolitik der schwarz-gelben Bundesregierung - ein Zickzackkurs. Die Energiewende - unkoordiniert. Die Sozialpolitik - merkwürdig wie das Betreuungsgeld und insgesamt inkonsequent. Das streichelt die Parteiseele, die Delegierten jubeln, und der Applaus ist lang. Doch dann das: Noch vor der Aussprache zu den Reden, gleich nachdem er den obligatorischen Blumenstrauß entgegennimmt, rauscht Scholz aus dem Saal - und geht. "Unmöglich", empört sich ein Delegierter. Ein anderer fordert per Mikrofondurchsage, die weitere Diskussion abzubrechen, sollte der Referent nicht zurückkehren. Doch Scholz ist weg. Kurz herrscht Unruhe, es wird abgestimmt: Die Debatte geht weiter.

Auch wenn der Hamburger Regierungschef für einen kleinen Eklat in Berlin gesorgt hat - nachhaltig übel nehmen es ihm seine Parteifreunde nicht. Zum einen ist Scholz kurzfristig für SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles eingesprungen, die sich vor ein paar Tagen einen Bänderriss zugezogen hat. Zum anderen hat er neben der Regierungskritik Themen angesprochen, die die Berliner genauso beschäftigen wie die Menschen in Hamburg: steigende Mieten, Schulpolitik, Kinderbetreuung. Großstadtthemen. Die Themen, mit denen die SPD in den Metropolen dieser Republik punktet - völlig anders als die CDU.

Im Ausnahmefall Stuttgart war zwar für die SPD nichts zu holen. Aber dort regiert zum ersten Mal seit 38 Jahren kein Christdemokrat mehr. Hier schaffte es mit Fritz Kuhn ein Grüner auf den Oberbürgermeisterstuhl. In den Top Ten der größten deutschen Städte findet sich mit Düsseldorf ohnehin nur noch eine Metropole in der Hand der CDU. Neben dem grünen Stuttgart werden die anderen acht Städte von der SPD geführt, außer Hamburg und Berlin sind es München, Köln, Frankfurt, Dortmund, Essen und Bremen.

Dass die CDU das urbane Lebensgefühl noch nicht so richtig verstanden hat, musste sie nach der Niederlage im Südwesten zerknirscht eingestehen. "Die Millionenstädte des Landes werden von Sozialdemokratien regiert", sagt Scholz, "das hat etwas mit dem Vertrauen der Bürger in unseren Pragmatismus zu tun."

Pragmatismus also. Übersetzt hieße das: Großstädtern geht es vor allem um praktische Problemlösung und weniger um das ideologische Fundament der Partei dahinter. Das passt zu genau jenem Befund, den Soziologen seit Jahrzehnten herunterbeten: Die Bindung der Bürger zu Parteien oder Verbänden lässt nach, traditionelle Milieus brechen auf. Es geht demnach nicht darum, links zu sein oder konservativ, sondern um die Sache: Wird die Kita in meinem Bezirk gebaut? Sitzt mein Kind in einem intakten Klassenzimmer, sind Straßen und Parks sauber, statt zu verdrecken?

Dass die Großstadt-SPD für sich in Anspruch nimmt, hier die besseren Antworten zu haben, will sie in Berlin zeigen. Jan Stöß, der Chef des Landesverbands, verweist in seiner Rede immer wieder darauf, was die Genossen in Hamburg und der Hauptstadt richtig machen: So habe Scholz in Sachen Mietsteigerungen und Wohnungsnot "einiges auf den Weg gebracht", indem sich bauwillige Investoren nun dazu verpflichten müssten, mindestens 30 Prozent Sozialwohnungen zu schaffen. "Der richtige Weg", lobt Stöß, und es sei gut, wenn das auch in vielen Berliner Bezirken aufgegriffen würde.

Bei der Integration - einer typischen Großstadt-Herausforderung - setze die SPD anders als die CDU darauf, Ressentiments abzubauen, statt sie zu bedienen; bei Kinderbetreuung und Bildung auf einen Ausbau von Kitas und Ganztagsgrundschulen statt auf das Betreuungsgeld. Die Berliner SPD prescht auch beim Thema Netzpolitik vor, indem sie sich bei ihrem Parteitag auf einen Leitantrag für mehr digitale Teilhabe und Partizipation der Bürger einigt. Ist das also das Rezept, um Großstädter zu überzeugen?

Auch in der CDU hatten sich in den vergangenen Jahren immer wieder einzelne Abgeordnete aufgemacht, die Metropolenkompetenz ihrer Partei zu stärken, darunter Hamburgs CDU-Chef Marcus Weinberg. Zudem hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihrer Partei einen Modernisierungskurs verordnet, der so manchem Konservativen unheimlich wurde. Doch gereicht hat es nicht. Als etwa Abgeordnete um Weinberg im Spätsommer eine Initiative zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften starteten, wurden sie von Merkel abgewatscht. Die andere Seite der Medaille ist allerdings, dass die CDU sowohl in ländlichenGegenden mehr Zuspruch findet als auch bei der Mehrheit der Wähler insgesamt. Zuletzt kam die Union in den Umfragen auf 39 Prozent, die SPD dagegen auf 29.

Doch auch bei den Sozialdemokraten ist man in der Stadt progressiver als im Bund. Die Berliner einigen sich darauf, dass die Rente nicht unter das derzeitige Niveau von gut 50 Prozent der Durchschnittslöhne sinken soll. Rot-Grün hatte 2002 beschlossen, dass das Rentenniveau bis 2030 auf 43 Prozent sinken kann, ohne dass gegengesteuert werden muss. Die Bundes-SPD klammert die Frage des Niveaus bislang aus und will ihr Rentenkonzept am 24. November abstimmen. Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat jedoch mehrfach vor unhaltbaren Wahlversprechen auch bei der Rente gewarnt.

Stöß kündigte jedoch an, dass die Berliner SPD für ihr Konzept kämpfen werde, "auch wenn es Gegenwind von der Bundesebene geben sollte". Vor allem in den Großstädten gebe es viele Betroffene. In Berlin und Hamburg ist die Anzahl derer, die von ihrer Rente nicht leben können, auf Rekordniveau gestiegen. In der Hauptstadt waren es im letzten Jahr 33 195, an der Elbe erhielten 2011 insgesamt 19 730 Senioren die Grundsicherung. Wie das Statistikamt Nord ermittelt hat, beträgt die Steigerung seit 2006 damit 29 Prozent.

Dass Scholz die Rente bei seiner Rede ausklammert, stößt vielen Genossen im Saal sauer auf. Zumal er als ehemaliger Arbeitsminister prädestiniert wäre, hierzu etwas zu sagen. Auf der anderen Seite ist er als SPD-Vizechef an den Zeitplan gebunden. Und es gibt noch etwas anderes, was dieses Versäumnis für manche wieder wettmacht: Über den Kurznachrichtendienst Twitter tauschen sich Delegierte über Scholz' Kleidungsstil aus. Zwar ist Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit ohnehin der Einzige auf dem Podium, der sich eine Krawatte umgebunden hat - Scholz aber ist in Jeans gekommen und trägt den obersten Knopf seines Hemdes offen. "Olaf Scholz ist heute so casual", schreibt einer anerkennend auf Neudeutsch. Großstadtkompetenz geht also auch so. Das allerdings hat Scholz dann schon nicht mehr mitbekommen.