Gestern wurde das erste Opfer von Tim K. beigesetzt, eine Zehntklässlerin. Wie 14 andere kalblütig erschossen. Bis in der Kleinstadt wieder Normalität einkehrt, wird wohl noch einige Zeit vergehen. Den Schülern wird jetzt freiwilliger Unterricht und Trauerarbeit angeboten.

Winnenden. Ein Opfer des Amoklaufs in Winnenden ist schon beigesetzt, doch das Motiv des Täters liegt noch immer im Dunkeln. Die Schüler haben jetzt die Möglichkeit, sich wieder unterrichten zu lassen. Das Angebot ist auf freiwilliger Basis und der Unterricht wird in Gemeinde-und Sporthallen stattfinden. Die Zeit gibt auch die Möglichkeit zur Trauerarbeit.

Die Ermittler rätseln, weshalb der 17-jährige Tim K. am vergangenen Mittwoch in Winnenden und Wendlingen 15 Menschen und sich selbst erschossen hat. Während eine ganze Nation nach Antworten sucht, streiten die Eltern des Todesschützen und die Ermittler, ob es eine psychotherapeutische Behandlung von Tim K. gegeben hat. Die Behörden und ein Mediziner bestätigen dies, die Eltern aber sagen nein.

"Es gab keine psychotherapeutische Behandlung des Jungen", sagte der Anwalt der Eltern, Achim Bächle, am Wochenende in Stuttgart der Nachrichtenagentur AP. Ambulante Behandlungen seien etwas ganz anderes als eine Psychotherapie, ergänzte er..

Zu früheren Äußerungen des Ärztlichen Direktors des Klinikums am Weissenhof, Matthias Michel, erklärte der Anwalt, die Familie behalte sich wegen dieser Behauptungen presse- und strafrechtliche Schritte, auch gegen das Klinikum am Weissenhof in Weinsberg, vor. Eine Psychotherapie sei eine regelmäßige, andauernde Behandlung. "Das war nicht der Fall", sagte der Anwalt.

Vielleicht hat die Aussage der Eltern etwas mit den strafrechtlichen Konsequenzen zutun, die möglicherweise auf den Vater des Amokläufers zukommen werden. Denn er hat sich nicht an die Vorschriften gehalten: Statt alle Waffen im dafür vorgesehenen Schrank auf zu bewahren, befand sich eine im Schlafzimmer - und war somit für den Sohn zugänglich.

Es kursieren die Gerüchte, dass Tim bis kurz vor der furchtbaren Bluttat an der Albertville-Schule Killerspiele im Internet gespielt hätte. Die Polizei wollte sich dazu zwar bislang nicht äußern, bestätigt aber einen ganz anderen Fund: Ermittler fanden stellten auf seinem PC eine Menge Pornobilder sicher. Zu sehen waren nackte, gefesselte Frauen. Der Friedhof war am Samstag voll mit Menschen. Hunderte wollen dem Mädchen die letzte Ehre erweisen und sind an ihr Grab gekommen. Ihre Klassenkameraden aus der 10d, die den Amoklauf und den Tod des Mädchens mitangesehen hatten, halten sich in einer langen Reihe an den Händen. "In diesen Tagen ist es wichtig, dass wir füreinander da sind und füreinander beten", sagt der Priester in der katholischen Trauerfeier.

Die Albertville-Realschule ist zu einem momentanen Ort des Grauens geworden. Ein Meer aus Blumen und Kerzen soll an den schrecklichen Tag erinnern, an dem 16 Menschenleben ausgelöscht wurden. Es ist ein Tag, der vielen noch lange in Erinnerung bleiben wird. Viele Winnender nutzen das Wochenende, um an der Schule innezuhalten. Die Abschiedsbriefe, die Schüler für ihre toten Freunde niedergelegt hatten, machen beklommen. Zugleich wirken die unzähligen bunten Tulpen- und Rosensträuße wie ein kleines Hoffnungszeichen bei all dem Entsetzen.

Mittlerweile kommen jedoch auch viele Schüler, um ihre Fahrräder und persönlichen Gegenstände abzuholen, die sich noch in der Schule befinden. Die Polizei öffnet die Absperrung zu dem Fahrradunterstand, wo viele Schüler am Mittwoch vor der ersten Stunde ihre Zweiräder angeschlossen hatten. Mit festen Pedal-Tritten radelt ein Junge davon. "Vielleicht weht die Fahrtluft ja den Kummer ein bisschen weg", sagt ein Seelsorger, der ihm hinterherblickt.

Wann und Ob überhaupt wieder Unterricht in dem Schulgebäude stattfinden soll, ist unklar. Zunächst sollen die Schüler nach wiederaufnahme des Betriebs in anderen Gebäuden unterrichtet werden. Die Erinnerungen sitzen zu tief - viele Schüler brechen verständlicherweise schon beim Anblick ihrer Mäppchen und Schultaschen in Tränen aus. "Diese Gegenstände sind ganz eng mit den schrecklichen Ereignissen verbunden", erklärt der Leiter der Kriseninterventionsteams der Schulpsychologen, Dieter Glatzer.

Seine Notfallseelsorger kümmern sich um die Kinder und alle Trauernden, die beim Anblick des Schulgebäudes und der niedergelegten Abschiedsbriefe von ihren Gefühlen überwältigt werden.

Im einige Gehminuten entfernten Rathaus von Winnenden stehen die Menschen in langen Schlangen, um sich in das Kondolenzbuch der Stadt einzutragen. "Ich weiß, der Satz ist abgedroschen. Aber dass so etwas hier bei uns in Winnenden passieren kann ..." - der Satz der Frau erstickt im Schluchzen. Auch auf dem Wochenmarkt vor dem Rathaus herrscht gedämpfte Stimmung. "Ich kann heute doch nicht herumschreien, wie knackig meine Äpfel sind", sagt eine Obstverkäuferin.

Die Psychologen wollen nun mit den Schülern, Lehrern und Angehörigen behutsam die grauenvollen Erlebnisse aufarbeiten. Richtig beginnen könne das aber erst, nachdem die Opfer nach und nach beigesetzt seien, sagt Glatzer. Die Menschen müssten wieder Hoffnung bekommen und in ihren Alltag zurückfinden.

Seit dem Amoklauf in Winnenden hat es bereits 40 sogenannte Trittbrettfahrer gegeben, die von den Behörden registriert wurden. Einer von ihnen sitzt in Untersuchungshaft. Der 19-Jährige hatte in der Nacht zum Freitag im Internet mit einer Schießerei in einer Realschule in Ilsfeld gedroht.