In seinem Buch “Mensch bleiben“ erläutert Prof. Dietrich Grönemeyer, Bruder des Sängers, wie eine moderne und menschliche Gesundheitsversorgung aussehen kann.

Hamburg. Wer kennt das nicht, dieses elende Gefühl, wenn man richtig krank ist. Grippe hat, mit hohem Fieber. Oder starke Rückenschmerzen. Vielleicht auch Herzrasen oder Gelenkbeschwerden. Jeder Mensch sehnt sich dann vor allem nach Zuneigung. Man möchte getröstet werden, ja auch ein wenig bedauert. Es soll jemand da sein, der das Gefühl vermittelt: Ich kümmere mich um dich. Ich möchte, dass es dir besser geht. Wer dann zum Arzt geht, erlebt aber nicht selten eine andere Situation. Das Wartezimmer ist überfüllt, Wartezeiten von einer oder zwei Stunden sind in vielen Praxen üblich. Das muss nicht so sein. Da gibt es einen, der spricht von "liebevoller Medizin" und hat jetzt ein Buch auf den Markt gebracht, dessen Titel "Mensch bleiben" Programm ist. Der Autor heißt Grönemeyer. War da nicht was mit "Mensch"? Der Autor heißt Dietrich Grönemeyer, ist Professor für Radiologie und Mikrotherapie an der Privatuniversität Witten/Herdecke - ja, und Herberts älterer Bruder. Und der Buchtitel? "Ich komme aus dem Ruhrgebiet. Und deshalb habe ich eine der zentralen Aussagen des legendären Jürgen von Manger als Titel gewählt - dem Idol von uns Geschwistern in der Jugend", sagt Grönemeyer fröhlich. Mit seiner Figur "Adolf Tegtmeier" vermittelte von Manger schon Ende der 60er-Jahre etwas, das man heute als "Comedy" bezeichnen würde. Grönemeyer illustriert seinen Denkansatz mit einem Zitat aus Leo Tolstois "Krieg und Frieden": "Der Arzt beugte sich tief über die Wunde, untersuchte sie und seufzte schwer. Dann gab er jemandem ein Zeichen. Und nun ließ ein quälender Schmerz im Inneren des Leibes Fürst Andrej das Bewusstsein verlieren . . . als er wieder zu sich kam, waren die zerschmetterten Hüftknochen entfernt . . . und die Wunde verbunden. Als er die Augen wieder aufschlug beugte sich der Arzt über ihn, küsste ihn schweigend auf die Lippen und entfernte sich eilig." Dieser Text illustriere, was liebevolle Medizin ist: die wirklich ehrliche mitmenschliche Fürsorge eines Arztes. "Alle Beteiligten im Gesundheitswesen müssten sich engagieren für eine liebevolle Medizin - auch die Politik und Verwaltungen: Es geht um die Lebensqualität von uns allen, einschließlich der chronischen Kranken, Behinderten und alten Menschen. Ein wesentliches Element neben der medizinischen Versorgung ist Fürsorglichkeit und Barmherzigkeit. Wir müssen loskommen vom Papierkrieg und der übermäßigen Verwaltungsarbeit, die uns wegbringt von den Patienten. Und das ist keine Utopie", sagt Grönemeyer temperamentvoll. "Es ist machbar. Und es würde sogar die Kassen entlasten." Entscheidender Punkt für den Mediziner ist, die Diskussion wieder auf das Wesentliche zurückzuführen: den Patienten und seine bessere medizinische Versorgung. "Wir verfügen heute über moderne Möglichkeiten auch für schonende, ambulante Diagnose- und Therapieverfahren, die in der Breite angewendet werden könnten und die nicht nur besser wären als viele andere Methoden, sondern auch noch kostengünstiger. Aber es fehlt der politische Wille, sich in diese Richtung zu bewegen", schreibt er. Der Patient habe Beschwerden, und die müssten gelindert, besser noch geheilt werden. Und dazu müssten alle therapeutischen Möglichkeiten eingesetzt werden: von der Naturheilkunde über die Akupunktur bis zur Mikrochirurgie. "Was wir brauchen, sind Gesundheitshäuser, die sich auf bestimmte Erkrankungen spezialisieren", sagt Grönemeyer dem Hamburger Abendblatt. "Dort sind unterschiedliche Disziplinen vertreten, die mit ihrem spezifischen Wissen im Team den Patienten helfen können." So könnte in einem Herz-Zentrum neben einem Internisten und Kardiologen auch ein Gefäßchirurg und ein Radiologe arbeiten. Sport, Ernährungsberatung, Physiotherapie und Rehabilitation würden das Angebot abrunden. Und von all dem nur so viel wie unbedingt notwendig und so wenig wie möglich. Der Patient würde über eine Ambulanz aufgenommen und nach einem gründlichen Gespräch von den jeweils für ihn passenden Fachleuten behandelt - ganzheitlich. Als Beispiel nennt er sein eigenes Zentrum, das sich auf Rückenleiden spezialisiert hat. "Hier arbeiten zum Beispiel Radiologen, Orthopäden, Neurochirurgen, Allgemeinärzte, Ernährungsberater und Physiotherapeuten Hand in Hand. Etwa 100 Zentren dieser Art würden die medizinische Versorgung der Patienten in Deutschland nachhaltig voranbringen", sagt Grönemeyer. Eine Grundvoraussetzung dafür sei Wettbewerb. "Den müssen wir im Gesundheitssystem endlich zulassen", fordert der Professor. Der Wille bei vielen Ärzten, Netzwerke zu bilden und im Team zu arbeiten sei da. Auch die Fähigkeiten. Doch stünden die verkrusteten Strukturen dagegen. Seine Erfahrungen schildert Grönemeyer so: "Ich habe hierzu vor fünf Jahren konkrete Vorschläge erarbeitet, um den Verwaltungsaufwand von uns und den Kassen zu minimieren. Wir hatten klar definierte Behandlungskategorien gebildet für die Behandlung von Gelenken und Muskulatur, Bandscheibe und Wirbelkörper. Wir wollten mit der Kasse dafür auch lediglich drei Abrechnungskategorien als Fallpauschalen vereinbaren. Das wurde wohl von der Bundesaufsicht des Versicherungswesens nicht genehmigt. Wir hatten eine Ersatzkasse, die dieses einfache und schöne Modell mit mir realisieren wollte, sogar die Kassenärztliche Vereinigung." Grönemeyer räumt ein, dass sein Konzept nur mit engagierten Ärzten und therapeutischen Teams umzusetzen ist. "Wir brauchen ein stärkeres Bewusstsein in der Ausbildung, sich dem Patienten zuzuwenden. Junge Ärzte müssen lernen, Gespräche zu führen und im Team zu arbeiten. Wir legen an der Universität Witten/Herdecke schon seit 1984 hierauf großen Wert, vor allen Dingen das Studium vom ersten Tag an am Krankenbett zu beginnen." Dazu gehöre auch, dass der Arzt nicht allwissend erscheint. "Ich muss auch in der Lage sein, meine eigene Begrenztheit offen zu legen. Die Patienten sind durchaus mündig und können entscheiden."

  • "Mensch bleiben", 190 Seiten, Herder, 19,90 Euro