Das neue Wahlrecht ist verfassungswidrig und kann bei der nächsten Bundestagswahl 2013 nicht angewendet werden. Bundesregierung und Parlament müssen jetzt schleunigst das Wahlrecht korrigieren. Nachfolgend wichtige Fragen und Antworten zum Thema.

Karlsruhe. Das erst vor einigen Monaten reformierte Wahlrecht für Bundestagswahlen ist verfassungswidrig und muss umgehend neu gestaltet werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht am Mittwoch in Karlsruhe entschieden. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat das Urteil „mit Respekt zur Kenntnis“. Vize-Regierungssprecher Georg Streiter fügte am Mittwoch in Berlin hinzu, das Bundesverfassungsgericht habe mit seiner Entscheidung „Klarheit“ geschaffen. Das Urteil müsse nun „sorgfältig und zügig geprüft“ werden. Das Wahlrecht liege aber „in der Hoheit des Parlaments“, fügte Streiter hinzu. Darüber müsse der Bundestag in eigener Zuständigkeit entscheiden.

Die FDP lobt das Urteil zum Wahlrecht. Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts werde „in vielen Punkten Rechtssicherheit hergestellt“, sagte der FDP-Bundestagsabgeordnete Stefan Ruppert am Mittwoch in Berlin. Das „bewährte deutsche Wahlrecht“ bleibe in seinen Grundzügen erhalten. „Die Änderungswünsche des Gerichts sind technischer Natur und gut umsetzbar“, sagte Ruppert. Die FDP-Fraktion werde alles dafür tun, dass das neue Wahlrecht noch rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl verabschiedet werden werde.

Aus Sicht der SPD hat die schwarz-gelbe Koalition mit dem Urteil „die Quittung dafür bekommen, dass sie das Wahlrecht als Machtrecht missbraucht hat“. Der parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann sprach am Mittwoch in Berlin von einem „guten Tag für unsere Demokratie“ und für die Bürger.„Die Koalition muss jetzt reden. Ein erneuter Alleingang ist nicht mehr möglich. Wir stehen für schnelle Gespräche bereit“, fügte Oppermann hinzu. Die SPD habe bereits im vergangenen Jahr einen Vorschlag für ein verfassungskonformes Wahlrecht gemacht. Die SPD-Fraktion gehörte zu den Klägern in Karlsruhe. „Gewonnen!“, twitterte Oppermann unmittelbar nach Verkündung des Urteils.

Das seit Dezember 2011 geltende Verfahren der Sitzverteilung für den Bundestag verstoße gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie gegen die Chancengleichheit der Parteien. Der Gesetzgeber muss nun das Bundeswahlgesetz so rasch nachbessern, dass die Neuregelung schon bei der kommenden Bundestagswahl im Herbst 2013 angewendet werden kann.

Die bisherige Regelung lasse zu, dass Überhangmandate in einem Umfang anfallen, „der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufhebt“, befanden die Karlsruher Richter. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erzielt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil Sitze zustehen. Bei der Bundestagswahl 2009 gab es 24 Überhangmandate, die alle an die Union fielen. Das Verfassungsgericht setzte nun selbst eine „zulässige Höchstgrenze von etwa 15 Überhangmandaten“.

Bundestagswahlen brauchen "verlässliche Grundlage“

Dies sei ein „handhabbarer Maßstab“ für den Gesetzgeber. Denn es sei notwendig, den kommenden Bundestagswahlen eine „verlässliche Grundlage“ zu geben und „dem Risiko einer Auflösung des Parlaments“ zu begegnen. Der Gesetzgeber müsse nun Vorkehrungen treffen, „die ein Überhandnehmen ausgleichsloser Überhangmandate unterbinden“.

Die Karlsruher Richter sehen einen Verfassungsverstoß auch darin, dass „Länder-Sitzkontingente“ nach der Wählerzahl – also nach der Wahlbeteiligung – zugewiesen werden sollten. Diese Neuregelung ermögliche den – bereits 2008 vom Verfassungsgericht beanstandeten - Effekt des negativen Stimmgewichts.

Denn die auf ein Land entfallende Sitzzahl knüpfe damit an die Wahlbeteiligung an und werde nicht von einer vor der Stimmabgabe feststehenden Größe bestimmt – wie etwa der Bevölkerungszahl oder der Zahl der Wahlberechtigten. Beim paradoxen Effekt des negativen Stimmgewichts kann unter bestimmten Umständen der Gewinn von Zweitstimmen für eine Partei zu einem Sitzverlust im Bundestag führen.

Das Gericht beanstandete auch die Neuregelung zur Vergabe von „Zusatzmandaten“, bei der „Reststimmen“ im Rahmen einer bundesweiten Verrechnung bei der Sitzzuteilung verwertet werden sollten. An der Vergabe dieser zusätzlichen Bundestagssitze könne nicht jeder Wähler mit gleichen Erfolgschancen mitwirken, hieß es.

Verfassungsgericht ist "ernüchtert“

Da die Vorschriften zu den Länder-Sitzkontingenten und den Zusatzmandaten für „nichtig“ erklärt wurden, „fehlt es somit gegenwärtig an einer wirksamen Regelung des Sitzzuteilungsverfahrens für die Wahlen zum Deutschen Bundestag“, stellte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle fest.

Die nun gekippte Wahlrechtsreform vom Dezember 2011 war von der schwarz-gelben Regierungskoalition im Alleingang beschlossen worden. Auslöser war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2008, das frühere Vorschriften für verfassungswidrig erklärt hatte und eine tief greifende Korrektur des Wahlsystems für Bundestagswahlen gefordert hatte. Voßkuhle nannte das vorgelegte Ergebnis „ernüchternd“ – trotz der 2008 vom Gericht großzügig bemessenen dreijährigen Frist für den Gesetzgeber.

Der Zweite Senat urteilte jetzt über eine Normenkontrollklage der Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen, eine Organklage der Grünen und eine von 3.063 Bürgern erhobene Massenbeschwerde. Alle Kläger wandten sich gegen die Änderung des Bundeswahlgesetzes vom Dezember 2011.

Wichtige Fragen und Antworten zum Thema

Was muss sich ändern?

Drei wichtige Punkte müssen geändert werden: Erstens: Die Zahl der Abgeordneten, die die Länder in den Bundestag entsenden, darf nicht von der Wahlbeteiligung in diesem Bundesland abhängig gemacht werden. Vielmehr muss das Sitzkontingent eines Landes aus der Einwohnerzahl oder den Wahlberechtigten abgeleitet werden.

Zweitens: Die Überhangmandate müssen auf maximal 15 begrenzt werden.

Drittens: Die unverwerteten Reststimmen für eine Partei im Bundesland dürfen nicht bundesweit zusammengezählt werden, so dass noch Zusatzmandate entstehen.

Warum ist die Bindung des Sitzkontingents an die Wahlbeteiligung im entsprechenden Bundesland verfassungswidrig?

Macht man die Sitzzahl im Parlament von den abgegebenen Stimmen abhängig, kann der Wähler nicht sicher sein, ob sich seine Stimme für seine Partei auch positiv auswirkt. Es ist sogar möglich, dass weniger Stimmen für die Partei dennoch zu mehr Sitzen im Bundestag führen. Dieses sogenannte negative Stimmgewicht ist verfassungswidrig. Denn weniger Stimmen für die Partei bedeuten dann kein Minus an Mandaten, wenn gleichzeitig die Wahlbeteiligung abnimmt.

Umgekehrt führen mehr Stimmen dann nicht zu einem zusätzlichen Bundestagssitz, wenn sich die Wahlbeteiligung erhöht, der zusätzliche Sitz dann aber einer konkurrierenden Partei im Land zukommt. Grund des negativen Stimmgewichts ist, dass die Wahlbeteiligungen in den Bundesländern immer ins Verhältnis gesetzt werden. Die hohe Wahlbeteiligung in einem Bundesland führt automatisch zu einer relativ niedrigeren in einem anderen Bundesland. Gleiches gilt für die Sitzzuwächse oder Absenkungen.

Wie soll das künftig korrigiert werden?

Das negative Stimmgewicht entfällt, wenn den Bundesländern von vornherein so viele Sitze im Bundestag zugeteilt werden, wie das Land Wahlberechtigte oder Einwohner hat. Die Stimmen für die Partei führen dann nicht – über die Wahlbeteiligung – zu unterschiedlichen Mandatszahlen.

Wann sind Überhangmandaten verfassungswidrig?

Überhangmandate entstehen durch das System von Erst- und Zweitstimmen. Die Zweitstimme gilt bei Bundestagswahlen der Partei und bestimmt ihre Stärke im Parlament. Die Erststimme ist die Personenwahl. Diese Stimme entscheidet, welcher Kandidat in einem Wahlkreis direkt ins Parlament gewählt wird. Wer die meisten Erststimmen im Wahlkreis hat, hat das Direktmandat und sitzt auf jeden Fall im Parlament.

Hat die Partei mehr Direktmandate, als nach ihrem Zweitstimmenanteil Sitze, dann werden die überschießenden Direktmandate als Überhangmandate vergeben. Der Bundestag wird dadurch größer. Bei der letzten Bundestagswahl 2009 gab es die Rekordzahl von 24 Überhangmandaten. Alle gingen an die CDU/CSU.

Müssen Überhangmandate ganz abgeschafft werden?

Nein. Die Überhangmandate an sich wurden nicht als verfassungswidrig untersagt. Das Bundesverfassungsgericht verlangt aber eine Deckelung der Überhangmandate. Bei 15 Überhangmandaten liege die Grenze. Die Zahl 15 entspricht einer halben Fraktionsstärke. Momentan sind 30 Sitze im Bundestag nötig, um eine Fraktion zu bilden. SPD und Grüne wollen nun möglichst alle Überhangmandate durch ein Verrechnungssystem abschaffen.

Was sind Zusatzmandate durch Reststimmen?

Dies ist ein Novum im neuen Wahlrecht. Bei der Zuteilung von Sitzen entsprechend den abgegebenen Wählerstimmen geht die Rechnung nicht glatt auf. Manchmal kommt bei der rechnerischen Umlegung von Zweitstimmen auf Sitze ein halbes Mandat heraus oder ein Dreiviertel. Hier bestimmt das Wahlrecht: Ab 0,5 wird aufgerundet, es gibt also einen zusätzlichen Sitz. Was unter 0,5 ist, wird abgerundet. Die Reststimmen führen also zu keinem zusätzlichen Sitz. Nach dem neuen Wahlrecht sollten nun diese Reststimmen bundesweit zusammengezählt werden. Daraus sollte dann ein zusätzliches Mandat entstehen können.

Wieso ist das verfassungswidrig?

Weil man die Aufrundungen nicht berücksichtigt hat. Es gibt ja einen zusätzlichen Sitz, sobald ein halbes Mandat erreicht ist. Das sind Aufrundungsgewinne. Liegt der Faktor unter 0,5, wird abgerundet. Das sind Abrundungsverluste. Es ist aber verfassungswidrig, wenn man nur die Abrundungsverluste für ein Zusatzmandat berücksichtigt, die Aufrundungsgewinne aber nicht dagegen rechnet.

Karlsruhe gegen Berlin - Verfassungsgericht kippt Bundesgesetze

In den vergangenen Jahren fuhren die Karlsruher Richter der Politik mehrfach in die Parade und beanstandeten Bundesgesetze:

Juli 2012: Das Gericht erklärt die seit 1993 unveränderten Leistungen für Asylbewerber für verfassungswidrig. Sie verstoßen gegen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Flüchtlinge und andere Menschen ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht müssen demnach in etwa so viel Geld bekommen wie Empfänger von Hartz-IV oder Sozialhilfe.

Juni 2012: Bei den Verhandlungen über den Euro-Rettungsschirm ESM

2011 hat die Regierung das Parlament nicht ausreichend informiert, stellen die Richter fest. Das gelte auch für den „Euro-Plus-Pakt“ zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik. Nach dem Grundgesetz müssen Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten „umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ unterrichtet werden. Das gelte schon, bevor die Regierung nach außen wirksame Erklärungen abgebe, entscheiden die Richter.

Februar 2012: Das Sondergremium des Bundestags für dringende Entscheidungen über Hilfsmaßnahmen des Euro-Rettungsschirms EFSF ist im Wesentlichen verfassungswidrig. Die Übertragung von Kompetenzen auf eine Runde aus neun Mitgliedern des Haushaltsausschusses verletze die Rechte der anderen Abgeordneten, entscheiden die Bundesrichter.

Mai 2011: Karlsruhe erklärt sämtliche Regelungen zur Sicherungsverwahrung von Straftätern für verfassungswidrig und fordert den Gesetzgeber auf, das Regelwerk innerhalb von zwei Jahren zu reformieren. Dafür gaben die Richter vor, dass Sicherungsverwahrte in gesonderten Abteilungen untergebracht werden, die sich vom Strafvollzug unterscheiden und therapeutischen Erfordernissen entsprechen.

Februar 2010: Die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder und Erwachsene müssen neu berechnet werden. Karlsruhe entscheidet, dass die bisherige Berechnungsmethode gegen das Grundgesetz verstößt. Der Gesetzgeber muss bis zum Jahresende eine Neuregelung schaffen.

Dezember 2008: Die Richter erklären die gekürzte Pendlerpauschale für verfassungswidrig. Seit 2007 konnten Fahrten zur Arbeit nicht mehr ab dem ersten, sondern erst ab dem 21. Kilometer von der Steuer abgesetzt werden. Jetzt gilt wieder die alte Regelung.

Februar 2006: Das Luftsicherheitsgesetz scheitert in Karlsruhe. Gekaperte Passagierflugzeuge dürfen zur Abwehr eines Terroranschlages nicht abgeschossen werden. Dies sei weder mit dem Grundrecht auf Leben, noch mit der Garantie der Menschenwürde vereinbar, urteilen die Richter.

März 2004: Das Gesetz zum Großen Lauschangriff ist zu großen Teilen verfassungswidrig. Die Richter mahnen einen stärkeren Schutz der Privatsphäre beim Abhören von Wohnungen an.

(dpa/dapd)